Engelslust
sie weder anzusehen noch zu berühren. Seine Träume waren bereits lebhaft genug gewesen.
Erwartungsvoll blickte sie unter gesenkten Lidern zu ihm auf. »Guten Morgen, Herr.«
Magnus schmiss ihr den Mantel in den Schoß und holte dann seine Jagdarmbrust aus Leichtmetall, die an der Wand der Hütte hing. »Zieh dich an; es geht los!«
»Wohin, mein Herr?«, fragte sie, während sie sich ihren schneeweißen Kapuzenmantel überzog.
»Westkarpaten, Slowakei«, erwiderte er knapp, da er so wenig Worte wie möglich mit ihr wechseln wollte.
Magnus legte seinen Umhang an, der immer noch über der Lehne des Sessels gehangen hatte, und schulterte seine Armbrust sowie den Köcher, in dem pfeilähnliche Bolzen aus Carbon steckten.
Magnus liebte diese Waffe. Sie tötete schnell, präzise und leise und war außerdem in Amerika legal zu bekommen. Dann holte er eine Landkarte aus der Manteltasche, bevor er mit dem Zeigefinger auf ein Felsmassiv deutete, vor dem ein kleiner See lag. »Genau dort hin. Tatra-Gebirge.«
Amabila nickte. Sie zog sich die Kapuze über und Magnus tat es ihr gleich. Er vergewisserte sich, dass die Armbrust fest auf seiner Schulter saß und der Miniaturkelch sich in seiner Brusttasche befand. Nur gut, dass er kaum größer als ein Schnapsglas war.
So klein und doch so mächtig …
Nachdem sie die Hütte verlassen hatten, nahm Magnus einen tiefen Zug der Bergluft und warf einen Blick auf das Felsmassiv der Rockys. Es war ein wunderschöner Herbstmorgen und die Aussicht auf die farbenprächtige Natur hatte ihm stets sehr gefallen, aber heute hatte er kein Auge dafür. Dieser Ort hatte ihm auch stets Entspannung gebracht, doch jetzt fühlte sich Magnus mehr als nur nervös. Ultra-nervös.
Amabila trat auf ihn zu und legte ihre Arme um seine Hüften. Ihr Kopf ruhte dabei auf seiner Brust, da Magnus sehr groß gewachsen war. Sofort fühlte er sich besser. Ihre Nähe raubte ihm jedes Mal den Atem. Amabilas Körperwärme drang durch ihre Mäntel, da er selbst die Arme um ihre zierliche Gestalt geschlossen hatte. Nur so konnten sie sich gemeinsam dematerialisieren.
Ein zarter Vanilleduft stieg in seine Nase. Magnus war versucht, sein Gesicht in ihrem Haar zu versenken. Hatte sie sich gewaschen?
Unmöglich, er hatte sie angeleint!
Sie drückte sich noch mehr an ihn und flüsterte: »Es geht los«; dann erfasste Magnus ein Reißen. Beide drehten sich wie ein Tornado im Kreis, wobei ihm sämtliche Luft aus den Lungen gepresst wurde und er alle Kräfte mobilisieren musste, um nicht von Amabila weggeschleudert zu werden. Anschließend glitt Magnus in eine andere Bewusstseinsebene, in der er nur noch aus Gedanken existierte.
Während des kurzen Fluges erinnerte er sich daran, wie er Amabila vor drei Tagen aus einem Krankenhaus in Denver »entführt« hatte. Er hatte sich eine Klinik ausgesucht, weil es dort nur so vor Engeln wimmelte. Normalerweise nahmen Menschen sie nicht wahr, denn sie konnten nur gesehen werden, wenn man sie sehen wollte. Engel kommunizierten mit Komapatienten oder sprachen mit solchen, die im Sterben lagen, um ihnen die Ängste vor dem Tod zu nehmen und sie ins Licht zu führen.
Amabila war gerade aus einem Zimmer gekommen und Magnus hätte sie beinahe nicht als Engel erkannt, wenn sie ihm nicht für einen kurzen Moment direkt in die Augen geblickt hätte. Als hätte sie gespürt, dass er auf der Suche nach solch einem Geschöpf wie ihr war. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte Magnus jenes verräterische Leuchten durch ihre Pupillen scheinen sehen, das sie definitiv als Engel verraten hatte. Allerdings war es mehr ein goldenes Glimmen gewesen, was darauf hindeutete, dass sie ein nicht ganz so perfekter Engel war.
Umso besser. Es war ein Leichtes für Magnus gewesen, einen Bannzauber über sie zu legen, um sie an sich zu binden. Willig war sie ihm gefolgt und hatte alles getan, was er von ihr verlangt hatte …
Magnus wurde abrupt aus seinen Gedanken gerissen, als er festen Boden unter den Füßen spürte und wieder Herr seines Körpers war. Hastig löste er sich von Amabila und setzte seine Kapuze wieder auf. Dann checkte er, ob sich der Kelch und seine Waffen noch am Körper befanden.
Während ihrer Reisen war Magnus vollkommen auf Amabila angewiesen. Sollte sein Zauber, der sie von ihm abhängig machte, versagen, wäre er verloren.
Ein eisiger Wind fuhr ihm unter das Cape, sodass er fröstelte und eine Gänsehaut bekam. Die tief stehende Abendsonne brachte kaum Wärme. Magnus
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