Engelsmorgen
viele Fragen, Anklagen – und auch die Bitte, ihr zu verzeihen, dass sie sich wie ein trotziges, verzogenes Kind benahm. Aber sie war bitter enttäuscht. An der Abzweigung nach Anderson Valley bog Daniel in Richtung Westen ab und versuchte noch einmal, nach ihrer Hand zu greifen. »Willst du mir nicht verzeihen? Verdirb uns doch nicht die letzten gemeinsamen Minuten!«
Sie wollte ja. Sie wollte mit Daniel nicht ausgerechnet jetzt einen Streit haben. Aber allein schon die Tatsache, dass er von den »letzten gemeinsamen Minuten« sprach und sie gleich verlassen würde – aus Gründen, die sie entweder nicht verstand oder die er ihr nicht nennen wollte –, machte sie erst nervös, ließ sie dann ängstlich werden und schließlich war sie nur noch frustriert. Inmitten all des Aufruhrs – ein unbekannter, neuer Ort, eine neue Schule, neue drohende Gefahren – war Daniel wie ein Fels in der Brandung für sie gewesen. An ihm glaubte sie, sich festhalten zu können. Und er wollte sie jetzt verlassen? Hatte sie noch nicht genug durchgemacht? Hatten sie beide noch nicht genug durchlitten?
Erst nach der Durchquerung der mächtigen, hohen Mammutbaumwälder, als sie in eine tiefblaue, sternenübersäte Nacht hinausfuhren, sagte Daniel etwas, das sie aus ihrem Schweigen herausriss. Sie waren an einem Schild vorbeigekommen, auf dem WELCOME TO MENDOCINO stand. Luce schaute gen Westen. Der Vollmond schien auf eine verstreute Ansammlung von Gebäuden herunter: einen hohen Leuchtturm, mehrere Wassertürme, vor allem aber auf die gut erhaltenen malerischen Holzhäuser. Irgendwo dahinter musste der Ozean sein, den sie hören, aber nicht sehen konnte.
Daniel zeigte nach Osten in einen dichten, dunklen Wald aus Mammut- und Ahornbäumen. »Siehst du die Wohnwagensiedlung da drüben?«
Hätte er nicht darauf gedeutet, sie hätte die schmale Zufahrt und das verwitterte Holzschild, auf dem in ausgeblichenen Buchstaben stand: MENDOCINO MOBILE HOMES nicht bemerkt.
»Da hast du früher mal gelebt.«
»Da?« Luce verschluckte sich fast an ihrer eigenen Spucke und hustete. Die Wohnwagensiedlung wirkte heruntergekommen und trübselig, niedrige, gleichförmig aussehende Container entlang eines Kieswegs. »Wie grässlich.«
»Du hast da gelebt, bevor es eine Wohnwagensiedlung war«, sagte Daniel, bremste und hielt am Straßenrand an. »Lange vorher. Dein Vater war während des kalifornischen Goldrauschs aus Illinois hierhergezogen.« Er schien nach innen zu blicken und schüttelte betrübt den Kopf. »War mal ein schöner Flecken.«
Luce beobachtete einen kahlköpfigen Mann in Trainingsanzugshose und mit fetter Wampe, der einen räudigen schmutzfarbenen Hund an der Leine Gassi führte. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, an einem solchen Ort einmal gelebt zu haben.
Doch Daniel war sich ganz sicher. »Ihr habt da in einer kleinen Holzhütte gewohnt, in der es nur zwei Räume gab. Deine Mutter war eine fürchterliche Köchin, deshalb hat es ständig nach Kohl gestunken. Am Fenster hingen weißblau karierte Vorhänge, ich weiß das noch so genau, weil ich sie immer auseinanderschob, um durchs Fenster zu steigen, sobald deine Eltern eingeschlafen waren.«
Daniel hatte den Motor nicht abgestellt. Luce schloss die Augen und versuchte, ihre idiotischen Tränen zurückzuhalten. Eine solche Geschichte aus ihrer Vergangenheit von Daniel zu hören … aber dann musste es so gewesen sein, so unwahrscheinlich sich das auch anhörte. Er würde sie niemals anlügen. Gleichzeitig verspürte sie ein starkes Schuldgefühl. Daniel liebte sie schon so lang, über so viele Leben und Zeiten hinweg. Sie hatte vergessen, wie gut er sie kannte. Sogar besser, als sie selbst sich kannte. Ob er wohl ahnte, was sie gerade dachte? Luce fragte sich, ob es womöglich für sie sogar leichter war als für ihn. Sie erinnerte sich ja an nichts, während Daniel bei allem, was sie miteinander erlebten, immer daran denken musste, wie oft sie das alles schon gemeinsam erlebt hatten. Und wie schlimm es jedes Mal ausgegangen war. Immer und immer wieder.
Wenn er ihr jetzt sagte, dass er sie für ein paar Wochen allein lassen musste, ohne erklären zu können, warum … dann musste sie ihm vertrauen.
»Wie war es damals, als du mir das erste Mal begegnet bist?«, fragte sie.
Daniel lächelte. »Ich hackte damals für andere Leute Holz und kriegte dafür als Lohn eine warme Mahlzeit. Eines Tages kam ich um die Mittagszeit an eurer Hütte vorbei. Deine Mutter
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