Engelsmorgen
einem hellen, strahlenden Blau und weit und breit war keine einzige Wolke zu sehen. So fühlte es sich also Anfang November am Pazifik an. Alles wirkte frisch gewaschen und sauber – sogar auf dem Parkplatz schienen nur lauter sauber blinkende, funkelnagelneue Autos zu stehen. In der Ferne wurde die ganze Szenerie von einer Bergkette eingerahmt, gelbbraun und grün gesprenkelt; Rücken um Rücken fügte sich dort zu einer geschwungenen Linie aneinander.
Luce war nicht mehr in Georgia.
»Also darauf war ich ja nicht gefasst«, neckte Daniel sie. »Kaum halte ich ein paar Tage lang nicht meine schützenden Schwingen über dich, macht sich schon ein anderer bei dir breit.«
Luce verdrehte die Augen. »Beruhig dich mal. Wir haben kaum miteinander gesprochen. Ich hab fast während des ganzen Flugs geschlafen.« Sie knuffte ihn. »Und dabei von dir geträumt.«
Daniels Lippen öffneten sich zu einem Lächeln und er drückte ihr einen Kuss auf die Haare. Sie blieb stehen und wartete auf weitere Küsse. Dann erst merkte sie, dass Daniel nicht zufällig angehalten hatte. Sie standen vor einem Auto. Nicht irgendeinem Auto.
Vor einem schwarzen Alfa Romeo.
Luce machte große, staunende Augen, als Daniel ihr die Beifahrertür aufhielt.
»D-das …«, stammelte sie, »d-das ist … Hast du gewusst, dass das mein absolutes Traumauto ist?«
»Und nicht nur das.« Daniel lachte. »Der hier gehörte dir früher sogar mal.«
Als sie bei diesen Worten zusammenzuckte, lachte er noch mehr. An die Sache mit den Wiedergeburten im Verlauf ihrer gemeinsamen Geschichte hatte sie sich immer noch nicht so recht gewöhnt. Es war so ungerecht. Ein großes Auto, an das sie sich nicht erinnern konnte. Ganze Leben, die aus ihrem Gedächtnis verschwunden waren. Sie wollte unbedingt mehr wissen, ihr war, als handelte es sich bei ihren früheren Ichs um Zwillingsschwestern, von denen sie bei der Geburt getrennt worden war und die sie nun schmerzlich vermisste. Sie stützte sich mit der Hand auf der Windschutzscheibe ab, wartete auf irgendeinen Wink, irgendein Déjà-vu-Erlebnis.
Nichts.
»Das Auto war mal das Geschenk deiner Eltern zu deinem sechzehnten Geburtstag, das ist schon einige Leben her.« Daniel warf ihr einen prüfenden Blick zu, als sei er sich unsicher, wie viel er ihr zumuten konnte. Als spürte er, wie neugierig sie auf Geschichten aus der Vergangenheit war, wie gern sie mehr über ihre frühere Leben erfahren wollte, und als wüsste er, dass sie davon zu viel auf einmal nicht verkraften konnte. »Ich hab ihn von diesem Typen in Reno gekauft. Er hat, ähm, er hat ihn … na ja, nachdem du …«
Lichterloh in Flammen aufgegangen warst, dachte Luce und ergänzte damit innerlich Daniels Satz um die bittere Wahrheit, die er nicht aussprechen wollte. Denn das wusste sie bereits über ihre lange gemeinsame Vergangenheit. Eines änderte sich nie. Das Ende ihrer Begegnungen blieb sich immer gleich. Selbstentzündung.
Nur diesmal nicht. Diesmal schien alles anders zu sein. Diesmal war der Ausgang womöglich ein anderer. Sie konnten Händchen halten, sie konnten sich küssen, sie konnten … sie wusste nicht, was sie noch alles miteinander tun konnten. Wie weit sie gehen durften. Aber sie wollte es um jeden Preis herausfinden. Wirklich um jeden Preis? Sie rief sich selbst zur Vernunft. Sie mussten vorsichtig sein. Siebzehn Jahre war nicht viel für ein Leben, und Luce war wild entschlossen, es diesmal länger auszuhalten, um herauszufinden, wie es sich wirklich anfühlen würde, mit Daniel zusammen zu sein.
Daniel räusperte sich und tätschelte die glänzende schwarze Kühlerhaube. »Fährt immer noch wie ein Weltmeister. Das einzige Problem ist …« Er blickte zu dem winzigen Kofferraum des Cabrios, dann auf Luces riesigen Seesack, dann wieder zurück zum Kofferraum.
Ja, es stimmte. Luce hatte diese schreckliche Angewohnheit, immer viel zu viel einzupacken. Sie hätte das auch sofort zugegeben, aber diesmal war es nicht ihre Schuld. Arriane und Gabbe hatten nämlich in Sword & Cross ihre Sachen gepackt, alle ihre schwarzen Kleidungsstücke und auch die bunten, die in Sword & Cross nur am Wochenende erlaubt gewesen waren. Sie selbst hatte keine Zeit dafür gehabt, sie musste sich von Penn, ihrer toten Freundin, verabschieden. Und natürlich von Daniel. Luce seufzte leise, sie hatte ein schlechtes Gewissen, dass sie nun hier in Kalifornien mit Daniel war, während ihre Freundin auf dem Friedhof von Sword & Cross neben ihrem Vater
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