Engelsmorgen
hatte eine Kohlsuppe auf dem Herd stehen, und es stank so fürchterlich, dass ich schon vorbeigehen wollte, ohne anzuklopfen und zu fragen. Aber dann hab ich dich durchs Fenster gesehen. Du warst am Nähen. Ich konnte den Blick nicht von deinen Händen wenden.«
Luce schaute auf ihre Hände, ihre schlanken weißen Finger und schmalen Handflächen. Ob ihre Hände wohl immer schon so ausgesehen hatten? Daniel griff nach ihnen. »Sie sind genauso zart wie damals.«
Luce schüttelte den Kopf. Sie mochte die Geschichte, sie hätte noch gern Hunderte solcher Geschichten gehört, aber das hatte sie nicht gemeint. »Ich möchte gern wissen, wie es war, als du mir das erste Mal begegnet bist«, sagte sie. »Das allererste Mal. Wie war das?«
Nach einer langen Pause sagte Daniel schließlich: »Es ist schon spät. Du musst noch vor Mitternacht in Shoreline sein. Man erwartet dich.« Er fuhr wieder los und bog nach links ab, in die Ortsmitte von Mendocino hinein. Luce beobachtete im Seitenspiegel, wie die Wohnwagensiedlung kleiner und kleiner wurde, bis sie ganz verschwunden war. Kurz darauf parkte Daniel den Alfa Romeo vor einem menschenleeren 24-Stunden-Diner mit gelben Wänden und großen Fenstern.
Die gemütlichen bunten Holzhäuser ringsum erinnerten Luce an die Küstenorte von New England in der Nähe ihrer früheren Schule in Dover, vor Sword & Cross. Nur dass hier alles weniger spießig wirkte. Die unregelmäßigen Pflastersteine der Straße glänzten im Licht der Straßenlampen gelb wie die Wände des Diners. Sie blickte die Straße entlang, die direkt in den Ozean hineinzuführen schien. Eisige Kälte breitete sich in ihrem Körper aus. Es kostete sie große Kraft, ihre Furcht vor der Dunkelheit im Zaum zu halten. Daniel hatte ihr erklärt, dass sie vor den Schatten keine Angst zu haben brauchte. Sie seien nur Boten. Aber was von ihm gesagt worden war, um sie zu beruhigen, hatte ihr erst recht großen Schrecken eingejagt. Dann das bedeutete, dass es viel gewaltigere Dinge als die Schatten gab, vor denen sie sich fürchten musste.
»Warum willst du es mir denn nicht erzählen, wie es war, als wir uns das allererste Mal begegnet sind?« Sie konnte nicht anders, sie musste ihn einfach danach fragen. Sie wusste selbst nicht, warum das für sie so wichtig war. Aber wenn sie Daniel vertrauen sollte, wenn sie hinnehmen sollte, dass er sie schon wieder verließ, ohne an seiner Liebe zu zweifeln – dann, ja dann war für sie wohl wichtig, mehr über den Ursprung dieses Vertrauens in ihn zu erfahren. Zu erfahren, wie und wann alles begonnen hatte.
»Weißt du eigentlich, was mein Nachname bedeutet?«, fragte er sie plötzlich.
Luce biss sich auf die Lippe. Sie versuchte, sich an das zu erinnern, was Penn und sie in der Bibliothek herausgefunden hatten. »Ich weiß, dass Miss Sophia einmal etwas über das Wächteramt erzählt hat. Aber keine Ahnung, was sie damals eigentlich damit meinte oder ob ich ihr überhaupt irgendwas glauben konnte.« Luces Finger wanderten zu ihrem Hals. Zu der Stelle, an der Miss Sophia ihn mit der Spitze ihres Dolchs berührt hatte.
»Sie hatte recht. Die Grigori sind ein weitverzweigter Clan von Engeln. Ein Clan, der nach mir benannt ist, um genau zu sein. Sie haben jetzt das Wächteramt inne, weil sie nämlich alle dazugelernt haben. Damit nicht mehr passiert, was … was damals geschehen ist, als ich noch im Himmel war. Und als du … Aber das ist schon sehr, sehr lange her, Luce. Ich kann mich kaum mehr daran erinnern.«
»Wie war das damals? Wer war ich?«, bedrängte sie ihn. »Ich erinnere mich, dass Miss Sophia angedeutet hat, die Grigori hätten sich mit sterblichen Frauen eingelassen. War es das? Hast du …«
Er schaute sie an. Irgendetwas in seinem Gesicht hatte sich verändert. Luce wusste nicht genau, was es bedeutete. Aber er schien fast erleichtert, dass sie es erraten hatte. Weil er dann nicht selbst die Wahrheit aussprechen musste.
»Als ich dich das erste Mal sah«, sagte er, »war es zwischen uns nicht anders als die vielen anderen Male, in denen wir uns seither das erste Mal begegnet sind. Die Welt war noch jünger, aber du warst dieselbe wie jetzt. Es war … Liebe auf den ersten Blick.« Diesen Teil der Geschichte kannte Luce.
Er nickte. »Wie immer. Der Unterschied war nur, dass du für mich beim ersten Mal unerreichbar warst. Eine solche Liebe wie die zwischen uns war absolut verboten. Ich wurde hart dafür bestraft, dass ich mich in dich verliebt hatte. Es geschah
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