Engelsmorgen
aufsteigend, als wollten sie bis zum Mond fliegen. Daniels Umarmung schützte sie vor jedem rauen Windstoß, vor jedem kühlen Lufthauch, der vom Ozean aufstieg. Die Nacht war sternenklar und still. Als wären sie die Einzigen auf der Welt.
»Wir sind im Himmel, oder?«
Daniel lachte. »Ich wünschte, es wäre so. Vielleicht eines Tages. Vielleicht sogar bald.«
Als sie so weit hinausgeflogen waren, dass kein Land mehr zu sehen war, änderte Daniel leicht die Richtung, und in einem weiten Bogen glitten sie an Mendocino vorbei, das in der Ferne unter ihnen aufleuchtete. Sie befanden sich hoch oben über dem Ort und bewegten sich unglaublich schnell voran. Trotzdem hatte Luce sich noch nie sicherer und geborgener gefühlt – und auch noch nie so viel Liebe empfunden.
Und dann, viel zu früh, sanken sie wieder nach unten, das Rauschen der Brandung wurde lauter, sie näherten sich allmählich der Steilküste. Eine schmale dunkle Straße wand sich durch die Landschaft. Als ihre Füße sacht auf einem weichen Graspolster aufsetzten, seufzte Luce.
»Wo sind wir?«, fragte sie, obwohl sie es bereits ahnte.
Die Shoreline School. Sie konnte in einiger Entfernung ein großes Gebäude erkennen, nicht viel mehr als ein Schatten. Kein erleuchtetes Fenster grüßte zu ihr herüber. Daniel hielt sie fest an sich gedrückt, als wären sie immer noch in der Luft. Sie drehte den Kopf, um ihm ins Gesicht zu sehen. Seine Augen glänzten feucht.
»Die mich damals gestürzt haben, verfolgen mich immer noch, Luce. Sie tun das bereits seit Jahrtausenden. Und sie wollen nicht, dass wir zusammen sind. Sie werden alles tun, was in ihrer Macht steht, um der Liebe zwischen uns ein Ende zu setzen. Wenn wir noch länger zusammenbleiben, gefährden wir uns beide. Deshalb darf ich nicht hier bei dir bleiben.«
Sie nickte, auch wenn sie nur schwer ihre Tränen zurückhalten konnte. »Aber warum bin ich nun hier?«
»Weil ich alles tun will, um dich zu beschützen, und das hier im Augenblick der beste Platz für dich ist. Ich liebe dich, Luce. Mehr als alles im Himmel und auf Erden. Sobald ich kann, komme ich wieder und hole dich.«
Luce wollte protestieren, aber dann hielt sie sich zurück. Er hatte alles für sie aufgegeben. Als er sie dann aus seiner Umarmung freigab, öffnete er die Hand, und auf der Handfläche begann etwas Kleines, Rotes zu wachsen. Ihr Seesack. Ohne dass sie es gemerkt hatte, hatte er ihn aus dem Kofferraum genommen und die ganze Zeit in seiner geschlossenen Faust verwahrt. In wenigen Sekunden war das Gepäckstück wieder zu seiner normalen Größe angewachsen. Wenn es ihr nicht das Herz zerrissen hätte, weil sie sich jetzt voneinander verabschieden mussten; wenn sie nicht gewusst hätte, wie schwer es auch ihm fiel, dann hätte sie belustigt aufgelacht, so sehr gefiel ihr dieser Trick.
In dem Gebäude ging ein Licht an. Eine Tür wurde geöffnet. Eine Gestalt war zu sehen.
»Es ist nicht für lang. Sobald alles sicherer ist, komm ich dich holen.«
Seine Hand umklammerte ihr Handgelenk, und bevor sie wusste, wie ihr geschah, hatte er sie bereits wieder umarmt und zu einem Kuss an sich gezogen. Sie vergaß alles andere, was zwischen ihnen noch eine Rolle spielte, und ließ ihr Herz überströmen. Vielleicht konnte sie sich nicht an ihre früheren Leben erinnern, aber wenn Daniel sie küsste, spürte sie die Vergangenheit ganz nah. Und auch die Zukunft.
Die Gestalt trat aus der Tür und kam auf sie zu, eine Frau in einem weißen Kleid.
Der Kuss zwischen Luce und Daniel, der viel zu kurz gewesen war, ließ sie so atemlos zurück, wie ihre Küsse es immer taten.
»Geh nicht«, flüsterte sie, die Augen wieder geschlossen. Das alles geschah viel zu schnell. Sie konnte Daniel nicht ziehen lassen. Noch nicht. Niemals.
Luce spürte einen Windhauch. Daniel war also bereits wieder aufgestiegen. Ihr Herz eilte ihm nach, als sie die Augen aufschlug und den letzten Flügelschlag seiner Schwingen sah, bevor er in einer Wolke verschwand. In der dunklen Nacht.
Zwei
Siebzehn Tage
Plong.
Luce zuckte zusammen und rieb sich übers Gesicht. Da war etwas an ihrer Nase.
Plong. Plong.
Jetzt an ihrer Wange. Ihre Lider öffneten sich und unmittelbar darauf verzog sie das Gesicht. Ein stämmiges Mädchen mit einem trotzigen Mund und dicken Augenbrauen beugte sich über sie. Ihre schmutzig blonden Haare hatte sie unordentlich hochgesteckt. Sie hatte eine Yogahose an und ein geripptes Camouflagehemd, das zu ihren grün gesprenkelten
Weitere Kostenlose Bücher