Engelsmorgen
fühlte sich der Kuss doch falsch an. So lange Zeit hatten ihre Lippen immer nur Daniel gewollt. Immer nur ihn. Sie hatte von seinen Küssen geträumt, seinem Lächeln, seinen violett leuchtenden Augen, seiner Umarmung.
Nie sollte es jemand anders geben, das war nicht vorgesehen.
Und wenn sie sich nun getäuscht hatte? Wenn sie mit einem anderen glücklicher – oder einfach nur: glücklich – sein konnte?
Miles zog sich zurück. Er wirkte glücklich und traurig zugleich. »Also dann, Gute Nacht.« Er wandte sich ab, fast als würde er auf der Stelle in sein Zimmer verschwinden wollen. Aber dann drehte er sich noch einmal um. Und griff nach ihrer Hand. »Wenn du jemals das Gefühl haben solltest, du weißt schon, dass es nicht so läuft, wie du … ich meine, mit …« Er schaute zum Himmel. »Ich bin da. Ich wollte, dass du das weißt.«
Luce nickte und kämpfte gegen die immer stärkere Verwirrung, die sie in sich spürte, an. Miles drückte ihr die Hand und machte sich dann auf. Mit ein paar mutigen, großen Schritten kletterte er über das nur leicht geneigte, mit Holzschindeln gedeckte Dach auf seine Seite des Wohnheims zurück.
Luce war wieder allein. Sie fuhr sich mit dem Finger über ihre Lippen, auf denen gerade eben noch die Lippen von Miles gelegen hatten. Wenn sie Daniel das nächste Mal sah, würde sie ihm dann davon erzählen? In ihrem Kopf pochte es von all den Ereignissen dieses Tages und sie wollte jetzt nur noch ins Bett. Auf dem Fensterbrett drehte sie sich noch einmal um. Sie wollte ein letztes Mal alles in sich aufnehmen, um sich später daran erinnern zu können, wie sich damals alles anfühlte – in der Nacht, in der sich so viele Dinge geändert hatten.
Aber was sie dann wahrnahm, waren nicht die Sterne und die Bäume und die anbrandenden Wogen des Ozeans, sondern etwas ganz anderes, hinter einem der vielen Kamine auf dem Dach. Etwas Weißes, das vom Wind hin und her bewegt wurde. Schimmernde Engelsflügel.
Daniel. Er kauerte, nur halb vom Kamin verdeckt, auf dem Dach, unweit der Stelle, wo Miles und sie sich geküsst hatten. Er hatte ihr den Rücken zugewandt. Er ließ den Kopf hängen.
»Daniel«, rief sie. Und als sie seinen Namen aussprach, begriff sie erst wirklich.
Er wandte ihr sein Gesicht zu, auf dem ein unnennbarer Schmerz zu lesen war. Als hätte Luce ihm gerade das Herz aus der Brust gerissen. Dann breitete er seine Schwingen aus und flog davon.
Einen Augenblick später war er nur ein Stern von vielen, die am Nachthimmel zu Luce herunterfunkelten.
Sechzehn
Drei Tage
Beim Frühstück am nächsten Morgen brachte Luce kaum einen Bissen hinunter.
Es war der letzte Schultag, bevor Shoreline alle Schüler in die Thanksgiving-Ferien entließ, und Luce fühlte sich schon jetzt einsam. Die Einsamkeit inmitten einer Menschenmenge ist die schlimmste Art von Einsamkeit, sie kam gegen das Gefühl einfach nicht an. Alle anderen um sie herum redeten darüber, dass sie nun bald zu ihren Eltern und Geschwistern nach Hause fahren würden. Erzählten von ihrem Freund oder ihrer Freundin, die sie seit den Sommerferien nicht mehr gesehen hatten. Von den Partys, die sie mit ihren Freunden am Wochenende feiern würden.
Die einzige Party, zu der Luce am Wochenende eingeladen sein würde, war ein einsames Kamingespräch mit sich selbst in ihrem Wohnheimzimmer.
Aber auch ein paar andere Schüler aus dem »normalen Zweig« der Schule würden hierbleiben wie Connor Madson, der aus einem Waisenhaus in Minnesota nach Shoreline gekommen war, oder Brenna Lee, deren Eltern in China lebten. Und Francesca und Steven – was natürlich keine besonders große Überraschung war – blieben auch hier. Am Donnerstagabend wollten sie im Speisesaal ein Thanksgiving-Dinner für all die Heimatlosen geben.
Luce hatte nur eine einzige Hoffnung, dass nämlich Arrianes Drohung, ein Auge auf sie zu haben, auch Thanksgiving einschloss. Doch sie hatte Arriane kaum mehr gesehen, seit sie Shelby, Miles und sie aus Las Vegas nach Shoreline zurückgebracht hatte. Nur diesen einen kurzen Augenblick am Vorabend an der Festtafel.
Alle würden am nächsten oder übernächsten Tag abreisen. Miles zu seinem über hundertköpfigen Festspektakel mit Catering-Service, Dawn und Jasmine zu einem gemeinsamen Treffen der beiden Familien in der Villa von Jasmines Eltern in Sausalito. Selbst Shelby, obwohl sie zu Luce kein Wort davon gesagt hatte, dass sie nach Bakersfield fahren würde, hatte am Vortag mit ihrer Mutter
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