Engelsmorgen
Eindruck, von ihm die Nase voll zu haben. Und war so damit beschäftigt, ihn abzuwehren, dass sie Luce und Francesca, die an ihr vorbeikamen, gar nicht bemerkte. Aber ihr Exfreund bemerkte sie. Sein Blick blieb an Luce hängen. Seine blassblauen Augen waren merkwürdig und fast etwas unheimlich.
Dann rief jemand, dass es jetzt höchste Zeit für den lockeren Teil und die Party am Strand sei, und alle Jugendlichen machten sich dorthin auf. Shelby zog die Aufmerksamkeit ihres Ex wieder auf sich, weil sie ihm einfach den Rücken zukehrte und ihm erklärte, dass er ihr besser nicht auf die Party folgte.
»Wärst du jetzt gern bei ihnen?«, fragte Francesca, während sie sich gemeinsam mit Luce von dem Feierrummel auf der Terrasse entfernte. Der Lärm und auch der Wind vom Ozean legten sich, als sie auf dem Kiesweg zum Wohnheim gingen, an den Blumenrabatten mit den wie durch ein Wunder immer noch blühenden Bougainvilleen vorbei. Luce fragte sich, ob dafür vielleicht Francesca verantwortlich war, wie auch für die plötzliche Ruhe.
»Nein.« Luce mochte die anderen alle ziemlich gern, aber wenn man sie jetzt danach fragte, was sie sich wirklich wünschte, dann wäre es nicht, auf irgendeine Strandparty zu gehen. Sie würde sich wünschen, dass … nein, sie war sich nicht sicher, was sie sich wünschen würde. Irgendetwas, das mit Daniel zu tun hätte, so viel war klar – aber was? Vielleicht, dass er ihr erzählen würde, was da draußen eigentlich los war. Dass er ihr die Wahrheit sagen würde, anstatt sie zu schützen, indem er ihr wichtiges Wissen vorenthielt. Sie liebte Daniel immer noch. Natürlich tat sie das. Er kannte sie besser als irgendjemand sonst. Ihr Herz pochte jedes Mal, wenn sie ihn sah. Sie sehnte sich nach ihm. Aber wie gut kannte sie ihn wirklich?
Francesca schaute auf die Grasflächen rechts und links des Wegs zum Wohnheim. Mit anmutiger Bewegung hob sie auf einmal ihre Arme wie eine Balletttänzerin.
»Keine Lilien und auch keine Rosen«, murmelte sie. Ihre Fingerspitzen begannen zu zittern. »Aber was war es dann?«
Ein weiches, leicht raschelndes Geräusch war zu hören, wie wenn eine Pflanze mitsamt ihren Wurzeln aus einem Gartenbeet gezogen wird, und dann wuchsen plötzlich ganz wundersam mondweiße Blumen auf beiden Seiten des Wegs empor. Fast kniehoch. Mit dicken, üppigen Blüten, keine Blumen, wie man sie allerorten antraf.
Es handelte sich um seltene wilde Pfingstrosen, deren Knospen so groß wie Tennisbälle waren. Die Blumen, die Daniel Luce gebracht hatte, als sie im Krankenhaus gelegen hatte – und wahrscheinlich schon viele Male vorher. Jetzt säumten sie den Weg hier in Shoreline und schimmerten in der Nacht weiß wie die Sterne am Firmament.
»Oh, wie schön«, sagte Luce.
»Für dich«, sagte Francesca.
»Warum?«
Francesca streifte ihr kurz über die Wange. »Manchmal kommt plötzlich von irgendwoher etwas Schönes in unser Leben. Wir verstehen nicht immer, warum, aber müssen diesen schönen Dingen einfach vertrauen. Ich weiß, du willst gern ganz viele Fragen stellen, aber manchmal zahlt es sich aus, einfach nur ein wenig Vertrauen zu haben.«
Sie sprach über Daniel.
»Du blickst auf mich und Steven«, fuhr Francesca fort, »und stellst dir auch viele Fragen. Ich weiß, dass wir etwas verwirrend sein können. Ob ich ihn liebe? Ja. Doch wenn die letzte große Schlacht kommt, werde ich ihn töten müssen. So sieht es mit uns beiden aus. Wir wissen beide, wo wir stehen.«
»Aber vertrauen Sie ihm nicht?«
»Ich vertraue darauf, dass er sich so verhält, wie es seiner Natur entspricht, und er ist eben ein Dämon. Man muss darauf vertrauen, dass die, die einen umgeben, sich so verhalten werden, wie es in ihrem Wesen liegt. Selbst wenn es so scheint, als würden sie ihr Innerstes verraten.«
»Was, wenn es nicht so einfach ist, darauf zu vertrauen?«
»Du bist stark, Luce, stark und unabhängig. Wie du gestern in meinem Büro reagiert hast, hat mir das gezeigt. Und das hat mich … sehr glücklich gemacht.«
Luce fühlte sich nicht stark. Sie fühlte sich dämlich. Daniel war ein Engel, seinem Wesen entsprach es folglich, gut zu sein. Sollte sie ihm deswegen also blind vertrauen? Und was war mit ihrer wahren Natur? Nicht so einfach nach einem Schwarz-Weiß-Schema zu entscheiden. Lag es vielleicht an ihr selbst, dass zwischen Daniel und ihr alles so kompliziert geworden war? Auch als sie schon wieder in ihrem Zimmer war und die Tür hinter sich geschlossen hatte,
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