Engelsmorgen
telefoniert, und Luce hatte sie stöhnen hören: »Ja. Ich weiß. Ich werde da sein.«
Für Luce war es der denkbar schlechteste Zeitpunkt, um ein paar Tage allein zu sein. Ihre Laune wurde immer schlechter, und das Dickicht in ihrem Innern würde sich wahrscheinlich nicht lichten, bis sie nicht wusste, wie es um ihre Gefühle für Daniel oder irgendjemanden sonst nun wirklich stand. Und sie verfluchte sich innerlich dafür, dass sie es mit Miles gestern Abend so weit hatte kommen lassen.
Die ganze Nacht hatte sie wach gelegen und war immer zum selben Schluss gekommen: Obwohl sie zu Recht in vielen Dingen über Daniel verärgert war, konnte sie damit nicht entschuldigen, was sie getan hatte. Sie hatte Miles geküsst. Sie hatte Daniel mit einem anderen betrogen.
Ihr wurde ganz schlecht bei dem Gedanken, wie Daniel da draußen auf dem Dach gesessen und zugesehen hatte, als Miles und sie sich küssten; wenn sie sich vorstellte, wie er sich gefühlt haben musste, als er danach davonflog. Genau so, wie sie sich gefühlt hatte, als sie erfahren hatte, was zwischen Daniel und Shelby geschehen war – nur noch schlimmer, weil es direkt vor seinen Augen passierte. Und sie hatte gewusst, dass sie ihn verriet. Wie hatte es nur so weit zwischen ihnen kommen können?
Ein hell klingendes, weiches Lachen brachte sie wieder in die Gegenwart zurück. Vor ihr stand ein kaum angetastetes Frühstück.
Francesca glitt zwischen den Tischen umher, in einem langen schwarz-weiß gepunkteten Cape. Jedes Mal wenn Luce zu ihr blickte, hatte sie ihr strahlendes Engelslächeln im Gesicht und war stets mit einer Schülerin oder einem Schüler ins Gespräch vertieft. Trotzdem fühlte Luce sich andauernd unter strenger Beobachtung. Als könnte Francesca sich in Luces Kopf hineinbohren und wüsste ganz genau, warum Luce heute überhaupt keinen Appetit hatte. Wie die wilden weißen Pfingstrosen entlang des Wegs am nächsten Morgen spurlos verschwunden waren, so konnte auch Francescas Glaube an Luces innere Stärke sich plötzlich in Nichts auflösen.
»Warum so traurig?« Shelby nahm einen kräftigen Bissen von ihrem Bagel. »Glaub mir, du hast gestern Abend nicht viel verpasst.«
Luce antwortete nicht. Die Strandparty mit dem Lagerfeuer war ihr wirklich so was von egal. Sie hatte gerade bemerkt, wie Miles zum Frühstück schlurfte, viel später als üblich. Seine Dodgers-Kappe hatte er tief über die Augen gezogen und seine Schultern hochgezogen. Unwillkürlich berührte sie mit den Fingern ihre Lippen.
Shelby wedelte mit beiden Armen. »Ist er blind, oder was? Erde an Miles! Hallo, hallo!«
Als sie sich endlich bei ihm bemerkbar gemacht hatte, winkte Miles ungeschickt zu ihrem Tisch zurück und stolperte dabei fast in das Selbstbedienungsbüfett. Er winkte noch einmal und verschwand dann auf der anderen Seite des Speisesaals.
»Lag das an mir oder hat sich Miles tatsächlich in einen totalen Sozialspastiker verwandelt?« Shelby verdrehte die Augen und ahmte dann Miles’ tapsiges Verhalten nach.
Aber Luce wäre Miles am liebsten hinterhergestolpert und …
Und dann? Hätte sie ihm gesagt, dass er nicht so verlegen zu sein brauchte? Dass sie auch an dem Kuss schuld war? Dass es leider schlecht ausgehen konnte, sich in jemanden wie sie zu verlieben? Dass sie ihn sehr gern mochte, aber es eben Dinge gab, die zwischen ihnen unmöglich waren? Dass sie im Moment zwar mit Daniel heftig zerstritten war, dass aber nichts die Liebe zwischen ihnen beiden wirklich infrage stellen konnte?
»Also, wo war ich stehen geblieben?«, fuhr Shelby fort und schenkte Luce noch eine Tasse Kaffee aus der Kanne auf dem Tisch nach. »Lagerfeuerromantik, Liedersingen am Strand, bla, bla, bla. Das kann alles echt ätzend sein.« Shelbys Mund verzog sich zu einem schrägen Beinahe-Lächeln. »Vor allem wenn du nicht dabei bist.«
Luces Herz entkrampfte sich ein klein wenig. Ab und zu konnte Shelby echt ein Goldstück sein. Aber dann zuckte ihre Zimmergenossin schnell die Achseln, wie um zu sagen: Lass dir das bloß nicht zu Kopf steigen.
»Keiner sonst würdigt so wie du, wenn ich Lilith gebe. Das ist alles.« Shelby richtete sich kerzengerade auf, reckte die Brust raus und ließ die rechte Hälfte ihrer Oberlippe verächtlich zittern.
Shelbys Lilith-Nummer hatte Luce bisher noch jedes Mal zum Lachen gebracht. Aber heute bewirkte sie bei ihr gerade mal ein schmallippiges Lächeln.
»Hmmm«, meinte Shelby. »Ich glaub ja nicht, dass du der Party besonders
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