Engelsmorgen
konnte sie so weitermachen, stellte Luce fest. Sie nahm das Füllhorn mit den Blumen und legte es auf ihren Schreibtisch.
Als sie wieder zum Fenster kam, streckte Miles eine Hand aus, um ihr auf das Fensterbrett und dann auf den Mauersims zu helfen. Sie konnte mit irgendeiner lahmen Entschuldigung kommen, wie dass sie Francescas Regeln nicht brechen wollte. Oder sie konnte einfach nur seine Hand nehmen, die warm und stark war und sie festhalten würde, und durchs Fenster nach draußen steigen. Sie konnte Daniel einen Augenblick vergessen.
Am Himmel war eine wahre Sternenexplosion zu sehen. Sie glitzerten in der Nacht wie die Diamanten am Hals von Miles’ Großtante – nur klarer, heller, noch schöner. Der Wald mit den Mammutbäumen lag dunkel und schweigend und Unheil verkündend da. Das Meer brandete unablässig an die Felsen der Steilküste. Am Strand musste inzwischen ein großes Lagerfeuer lodern, dessen rötlichen Widerschein man am Himmel sehen konnte. Der Ozean. Der Wald. Der Himmel. Luce hatte all das auch vorher schon bemerkt. Aber die vielen anderen Male, die sie hier draußen gewesen war, hatte Daniel immer ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Hatte sie beinahe geblendet, sodass sie nie die Schönheit dieses Ortes wahrgenommen hatte.
Es war wirklich atemberaubend schön.
»Wahrscheinlich fragst du dich, warum ich gekommen bin«, sagte Miles, und da merkte Luce erst, dass sie bereits eine ganze Weile schweigend nebeneinander saßen. »Ich wollte dir das alles schon früher sagen, aber … ich hab mich nicht … ich bin mir nicht sicher, ob du …«
»Ich bin froh, dass du gekommen bist. Wurde allmählich etwas langweilig da drinnen, immer nur auf das Feuer starren.« Sie lächelte ihn an.
Miles vergrub die Hände in den Taschen. »Ich weiß ja, dass du und Daniel …«
Luce seufzte unwillkürlich.
»Du hast recht, ich sollte nicht ständig wieder davon anfangen …«
»Nein, deswegen hab ich nicht aufgeseufzt.«
»Es ist nur … ich … du weißt, dass ich dich mag?«
»Mhmmm.«
Natürlich mochte Miles sie. Sie waren Freunde. Gute Freunde.
Luce nagte an ihrer Lippe. Sie tat jetzt vor sich selbst so, als wäre sie dümmer, als sie in Wirklichkeit war, und das war nie ein gutes Zeichen. Die Wahrheit war: Miles mochte sie. Und sie mochte ihn auch. Man brauchte ihn sich bloß anzuschauen. Mit seinen meerblauen Augen und dem Lächeln, das sein ganzes Gesicht überzog. Seinem leisen Lachen. Außerdem war er der netteste Junge, den sie jemals kennengelernt hatte.
Aber es gab Daniel, und vor ihm hatte es auch schon Daniel gegeben, und wieder und wieder, immer nur Daniel – und das alles war so heillos kompliziert.
»Jetzt vermurks ich das alles«, seufzte Miles. »Wo ich dir doch einfach nur Gute Nacht sagen wollte.«
Sie schaute zu ihm auf und er schaute auf sie herunter. Seine Hände kamen aus seinen Taschen heraus, suchten nach ihren Händen und hielten sie dann zwischen ihnen beiden fest umklammert. Er beugte sich langsam und bedächtig zu ihr herab. Wieder spürte Luce mit allen Sinnen, wie einzigartig doch diese Nacht war.
Sie wusste, dass Miles sie küssen wollte. Sie wusste, dass sie das besser nicht zulassen sollte. Wegen Daniel natürlich – aber auch wegen des Vorfalls damals, als sie Trevor geküsst hatte. Ihr erster Kuss. Ihr einziger Kuss mit einem anderen als Daniel. War ihre Beziehung zu Daniel der Grund gewesen, weshalb Trevor sterben musste? Was, wenn Miles in der Sekunde, in der sie ihn küsste … schon der Gedanke war ihr unerträglich.
»Miles.« Sie schob ihn zurück. »Das solltest du nicht tun. Mich zu küssen ist …«, sie schluckte, »… gefährlich.«
Er lachte leise. Natürlich würde er sie küssen, er wusste ja nicht, was mit Trevor geschehen war. »Warum sollte ich mir diese Chance entgehen lassen?«
Sie versuchte, sich von ihm zu lösen, aber wenn sie mit Miles zusammen war, fühlte sich einfach immer alles gut an. Sogar jetzt. Als sein Mund sich auf ihren legte, hielt sie den Atem an und war auf das Schlimmste gefasst.
Aber nichts geschah.
Miles’ Lippen lagen federleicht auf ihren, er küsste sie so sacht, dass es sich immer noch wie bei einem guten Freund anfühlte – aber gleichzeitig leidenschaftlich genug, dass klar war, sie könnte viel mehr haben. Wenn sie wollte.
Doch auch wenn da keine Flammen waren, keine verbrannte Haut, keine Zerstörung, kein Tod – und warum war das eigentlich nicht so? Was war hier anders als bei Trevor? –,
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