Engelsmorgen
ein ganz wichtiges Ding im Himmel sausen lassen, irgendeine sehr mächtige Position. Das ist doch ein ziemlicher Knaller, findest du nicht?« Shelby nickte. »Da muss doch mehr dahinterstecken, da hat es doch nicht gereicht, dass er mich für ein ziemlich hübsches Mädchen hielt.«
»Aber … hast du denn eine Ahnung, was das war?«
»Ich hab ihn danach gefragt, aber er hat mir nie gesagt, wie es wirklich war. Manchmal hatte ich fast den Eindruck, als könne Daniel sich gar nicht so richtig daran erinnern. Und das finde ich total verrückt, weil es ja heißt, dass wir beide über unsere wahre Geschichte gar nicht Bescheid wissen. Es gibt da nur diese jahrtausendealten Erzählungen, all diese Märchen, viel mehr kennen wir beide nicht, glaub ich, weder er noch ich.«
Shelby rieb sich das Kinn. »Gibt es noch andere Dinge, die Daniel dir verschweigt?«
»Das bin ich gerade dabei herauszufinden.«
Die Frühstückszeit war vorbei; die meisten Schüler machten sich in den Unterricht auf. Die Kellner warteten darauf, die letzten Teller abräumen zu können. An einem Tisch ganz nah am Rand des Kliffs saß Steven und trank allein seinen Kaffee. Seine Brille hatte er abgenommen, sie lag vor ihm auf dem Tisch. Sein Blick und der von Luce kreuzten sich, und er schaute ihr lang in die Augen, so lang, dass sich ihr sein aufmerksamer, forschender Gesichtsausdruck tief einprägte; sie spürte seinen Blick noch auf sich ruhen, als sie bereits aufgestanden war, um zum Unterricht zu gehen. Was wahrscheinlich beabsichtigt war.
Nach dem längsten und einlullendsten Unterrichtsfilm – über Zellteilung –, den Luce jemals gesehen hatte, ging sie aus dem Biologiesaal hinaus, die Treppe des Hauptgebäudes der Schule hinunter und trat dann ins Freie – wo sie überrascht feststellte, dass der Vorplatz mit Autos vollgeparkt war. In langer Reihe warteten Eltern, ältere Geschwister und sogar ein paar Chauffeure mit teuren Limousinen auf die Schüler.
Ringsum eilten die Jugendlichen zu den Wagen, zogen ratternde Koffer hinter sich her. Dawn und Jasmine umarmten sich, um sich zu verabschieden, bevor Jasmine in eine Limousine stieg und Dawns Bruder auf dem Rücksitz eines SUV für sie Platz machte. Die beiden würden sich nur für ein paar Stunden trennen.
Luce stemmte sich gegen den Strom und verschwand wieder im Gebäude, wo sie sich dann durch eine selten benutzte Hintertür in Richtung Wohnheim aufmachte. Mit all diesen Abschieden kam sie im Augenblick nicht gut zurecht.
Wie sie da unter dem grauen Himmel über den Rasen spazierte, verspürte Luce zwar immer noch durch und durch ein Schuldgefühl gegenüber Daniel, aber das Gespräch mit Shelby hatte sie wieder etwas aufgerichtet. Außerdem mochte das vielleicht komisch klingen, aber seit sie einen anderen Jungen geküsst hatte, kam es ihr so vor, als hätte sie in ihrer Beziehung zu Daniel endlich auch mehr zu sagen. Vielleicht würde sie ihm damit zur Abwechslung mal eine ehrliche Reaktion entlocken. Sie könnte ihn um Verzeihung bitten. Er könnte sie um Verzeihung bitten. Sie könnten zusammen eine Limonade trinken oder was auch immer. Ihr vermurkstes Beziehungsmuster durchbrechen und ein richtiges Gespräch miteinander führen.
Da kam ein Summton von ihrem Handy. Eine SMS von Mr Cole:
Alles ist geregelt.
Dann hatte Mr Cole also die Nachricht weitergegeben, dass Luce nicht nach Hause kam. Aber er hatte nicht erwähnt, ob ihre Eltern nun sehr enttäuscht waren. Sie hatte nichts mehr von ihnen gehört.
Es war eine Situation, für die es keine Lösung zu geben schien: Wenn sie ihr schrieben, hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie ihnen nicht antwortete. Wenn sie ihr nicht schrieben, fühlte sie sich erst recht schuldig, weil sie sich innerlich so weit von ihren Eltern entfernt hatte. Und sie hatte immer noch nicht darüber nachgedacht, was sie nun eigentlich mit Callie anstellen sollte.
Sie stiefelte die Treppe im leeren Wohnheim hoch. Jeder Schritt hallte in dem verlassenen Gebäude wider. Keiner war dort mehr zu sehen.
Als sie in ihr Zimmer kam, erwartete sie, von Shelby keine Spur mehr zu sehen – oder zumindest nichts als einen gepackten Koffer neben der Tür.
Shelby war auch nicht da, aber ihre Kleidungsstücke lagen immer noch über ihre ganze Zimmerhälfte verstreut. Ihre rote Daunenweste hing immer noch am Haken und ihre Yogautensilien waren immer noch in der Ecke verstaut. Vielleicht würde sie ja erst am nächsten Tag fahren.
Kaum hatte Luce die Tür
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