Engelsmorgen
nachtrauerst. Ich hab gestern Abend gesehen, wie Daniel hoch oben über den Strand geflogen ist. Ihr hattet euch bestimmt jede Menge zu erzählen.«
Shelby hatte Daniel gesehen? Warum hatte sie das nicht früher erwähnt? Hatte vielleicht sonst noch jemand ihn bemerkt?
»Wir haben nicht einmal miteinander geredet.«
»Kann ich kaum glauben. Sonst hat er dir doch immer so viele Befehle zu erteilen …«
»Miles hat mich geküsst, Shelby«, unterbrach sie Luce. Sie hatte die Augen geschlossen. Aus irgendeinem Grund fiel ihr dadurch das Geständnis leichter. »Gestern Abend. Und Daniel hat es gesehen. Er ist davongeflogen, bevor ich …«
»Okay, jetzt begreif ich.« Shelby pfiff leise durch die Zähne. »Das ist ja ein Ding.«
Luces Gesicht brannte vor Scham. Das Bild von Daniel, wie er die Flügel ausbreitete und davonflog, hatte sich ihr tief ins Gedächtnis eingegraben. Es fühlte sich so endgültig an.
»Dann ist es zwischen dir und Daniel … also ich meine, ist es zwischen euch aus?«
»Nein. Nie.« Luce konnte den Satz nicht einmal hören, ohne dass ihr Schauer über den Rücken liefen. »Ich kenn mich einfach nicht mehr aus.«
Sie hatte Shelby nicht erzählt, was sie noch in dem Verkünder gesehen hatte, dass nämlich Daniel und Cam zusammenarbeiteten. Womöglich insgeheim Freunde waren, soweit sie das beurteilen konnte. Shelby würde sowieso nicht wissen, wer Cam war, und die Geschichte war auch viel zu kompliziert. Und außerdem würde Luce es nicht ertragen, wenn Shelby mit ihren ach-so-provokanten Ansichten über Engel und Dämonen ihr erklären würde, dass eine Partnerschaft zwischen Daniel und Cam gar keine so große Sache sei.
»Au weia, da muss Daniel ja jetzt total durcheinander sein. Ist das nicht sein ganz großes Ding – die unsterbliche Liebe, die ihr füreinander habt?«
Luce saß in ihrem schmiedeeisernen weißen Stuhl stocksteif da.
»Entschuldigung, Luce. Ich wollte nicht zu sarkastisch sein. Und wenn Daniel nun Geschichten mit anderen hätte? Könnte doch auch sein. Ach, was weiß ich, das ist jedenfalls alles ziemlich undurchsichtig. Die offizielle Ansage lautet jedenfalls, dass er nie daran gezweifelt hat, du seist die einzige wahre große Liebe für ihn, durch all die Jahrtausende hindurch.«
»Soll mich das jetzt trösten?«
»Ich hab überhaupt nicht vor, dich zu trösten. Ich will nur auf was hinaus. Daniel mag sich vielleicht immer wieder ziemlich distanziert und abweisend verhalten – und ich versteh gut, dass dich das nervt –, aber er ist ganz klar in dich verliebt. Die wirkliche Frage ist: Was ist mit dir? Daniel muss doch auch wissen, dass du ihn womöglich sitzen lässt, wenn ein anderer daherkommt. Und dieser andere ist jetzt eben Miles. Was man ja auch verstehen kann, weil er ein toller Typ ist. Für meinen Geschmack vielleicht ein wenig zu gefühlvoll, aber …«
»Ich würde Daniel nie sitzen lassen«, sagte Luce und hätte das nur zu gern selbst geglaubt.
Sie dachte an sein schockiertes Gesicht, als sie sich am Strand gestritten hatten. Wie erschrocken sie war, als er viel zu schnell gefragt hatte: Heißt das, es ist zwischen uns vorbei? Als rechnete er geradezu mit dieser Möglichkeit. Als hätte sie nicht die ganze irre Geschichte über ihre unsterbliche Liebe problemlos geglaubt, als er sie ihr damals unter den Pfirsichbäumen von Sword & Cross erzählt hatte. Sie hatte sie einfach gutgläubig geschluckt, in einem einzigen großen Happen, mit allem Drum und Dran – mitsamt all den Ungereimtheiten, die einfach keinen Sinn ergaben, aber die sie einfach glauben wollte. Doch jetzt nagten sie an ihr, Tag für Tag. Sie spürte, wie großer Zweifel in ihr hochstieg:
»Ich weiß noch nicht mal, warum er mich eigentlich mag.«
»Oh nein, bitte nicht«, stöhnte Shelby. »Komm mir jetzt nicht damit. Er ist viel zu gut für mich, au weia weia weia. Wenn du eines von diesen Mädchen bist, muss ich dich rüber an den Tisch von Dawn und Jasmine schicken. Das ist deren Spezialgebiet, nicht meines.«
»So mein ich das nicht.« Luce beugte sich vor und sprach noch leiser. »Aber du kennst doch die Geschichte, viele, viele Zeitalter zurück, als Daniel, du weißt schon, da oben war, hat er mich erwählt. Mich, vor allen anderen auf der Erde …«
»Na ja, wahrscheinlich gab’s damals auch eine viel geringere Auswahl – autsch!« Luce hatte sie geschlagen. »He, ich versuch doch nur, deine Stimmung etwas aufzuhellen!«
»Er hat mich ausgewählt, Shelby, und dafür
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