Engelsmorgen
gingen ihr Francescas Worte nicht aus dem Kopf.
Ungefähr eine Stunde später ließ ein Klopfen am Fenster Luce hochfahren. Sie saß vor dem Kamin und schaute auf das verlöschende Feuer. Noch bevor sie aufstehen konnte, war schon ein zweites Klopfen am Fenster zu hören, aber diesmal zögerlicher. Luce rappelte sich vom Boden auf und ging ans Fenster. Was wollte Daniel schon wieder hier? Nachdem er ihr so groß und breit erklärt hatte, dass sie sich nicht sehen durften, weil das viel zu gefährlich sei – warum tauchte er dann trotzdem immer wieder auf?
Sie hatte auch keine Ahnung, was Daniel eigentlich von ihr wollte – außer sie mit seiner Liebe zu quälen, so wie er sie in ihren früheren Leben gequält hatte. Alles, was sie im Augenblick wollte, war, allein zu sein, um nachzudenken. Sie wollte ihn jetzt nicht sehen.
Sie trat ans Fenster und machte es weit auf, wobei sie eine von Shelbys tausend Pflanzen auf dem Fensterbrett umstieß. Dann umklammerte sie mit den Händen das Fensterbrett und lehnte sich weit in die Nacht hinaus. Bestimmt würde sie gleich Daniel vor sich sehen.
Aber es war nicht Daniel.
Es war Miles, der da im Mondlicht auf dem Mauersims stand.
Er hatte inzwischen wieder Jeans und Sweatshirt an, aber die Dodgers-Kappe hatte er weggelassen. Der größte Teil seines Körpers befand sich im Schatten, doch seine breiten Schultern zeichneten sich deutlich gegen den dunkelblauen Nachthimmel ab. Sein schüchternes Lächeln zauberte ein ebenso schüchternes Antwortlächeln auf ihrem Gesicht hervor. Er hielt ein goldenes Füllhorn mit orangeroten Lilien in der Hand, das er von der Tischdekoration des Herbstfestes mitgenommen hatte.
»Miles«, sagte Luce. Wie seltsam sich sein Name in ihrem Mund anfühlte. Wie eine freudige Überraschung. Was umso seltsamer war, da sie noch vor einer Minute absolut niemanden mehr hatte sehen wollen. Ihr Herz klopfte schneller und sie konnte das Lächeln auf ihrem Gesicht gar nicht mehr abstellen.
»Verrückt, dass ich von dem Sims unterhalb meines Fensters bis zu dir spazieren kann, oder?«
Luce nickte stumm, das überraschte sie ebenfalls. Sie war noch kein einziges Mal in Miles’ Zimmer im Jungentrakt des Wohnheims gewesen. Sie wusste noch nicht einmal, wo es war.
»Siehst du?« Sein Lächeln wurde noch breiter. »Wenn sie dich nicht ins Zimmer verbannt hätten, hätten wir beide das nie rausgekriegt. Es ist hübsch hier, Luce; du solltest auch rauskommen. Oder bist du vielleicht nicht schwindelfrei?«
Luce wollte hinaus zu Miles. Sie wollte sich nur nicht gern an die anderen Male erinnert fühlen, wo sie mit Daniel dort draußen gewesen war. Die beiden waren so total unterschiedlich. Miles war so einfühlsam, nett und um sie besorgt – und sie konnte sich immer auf ihn verlassen. Daniel war die große Liebe ihres Lebens. Aber wenn es nur so einfach gewesen wäre. Es schien ihr ungerecht und unmöglich, die beiden zu vergleichen.
»Wieso bist du nicht mit den anderen am Strand?«, fragte sie.
»Es sind nicht alle am Strand.« Miles lächelte. »Du bist hier.« Er schwenkte das Füllhorn mit den Blüten. »Die hab ich für dich mitgebracht. Shelby hat auf ihrer Seite des Zimmers so viele Blumentöpfe. Da hab ich mir gedacht, du könntest das vielleicht bei dir auf den Schreibtisch legen.«
Miles überreichte ihr durch das offene Fenster das geflochtene, goldbesprühte Füllhorn. Es quoll nur so über von Feuerlilien. Ihre schwarzen Staubfäden zitterten im Wind. Die Blüten waren nicht perfekt, ein paar davon welkten bereits, aber sie waren viel schöner als die prächtigen Pfingstrosen, die Francesca für Luce hatte erblühen lassen. Manchmal kommt plötzlich von irgendwoher etwas Schönes in unser Leben.
Luce fand, dass diese Geste das Netteste war, was ihr in Shoreline widerfahren war – zusammen mit Miles’ Einbruch in Stevens Büro, bei dem er das dicke Lehrbuch gestohlen hatte, damit er Luce dabei helfen konnte, einen Schatten zu durchschreiten. Zusammen mit Miles’ Einladung, doch mit ihm gemeinsam zu frühstücken – am allerersten Tag, an dem sie sich kennengelernt hatten. Oder seinem spontanen Vorschlag, ihn doch an Thanksgiving zu besuchen und mit ihm und seiner Familie zu feiern. Oder der Tatsache, dass er ihr so ganz und gar nicht nachtrug, während des Herbstfests zur Müllentsorgung abgestellt worden zu sein, als sie alle drei wegen Luces heimlichem Ausflug nach Les Vegas Ärger bekommen hatten. Oder dass Miles …
Die ganze Nacht
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