Engelsmorgen
Handgelenken. Ihre haselnussbraunen Augen glänzten feucht. »Wie geht es dir, Luce?«, fragte sie. »Geht es dir gut?«
Luce freute sich so sehr, endlich wieder einmal zu Hause zu sein, dass sie spürte, wie auch ihre Augen feucht wurden. Sie nickte und sank dann ihrer Mutter in die Arme.
Die Frisur ihrer Mutter, die ihre dunklen Haare kinnlang trug, wirkte so makellos, als sei sie erst am Vortag zum Schneiden und Legen beim Friseur gewesen. Und bestimmt war das auch der Fall gewesen, so wie Luce sie kannte. Sie sah jünger und hübscher aus, als Luce sie in Erinnerung hatte. Verglichen mit den Eltern im Greisenalter, die sie in Mount Shasta durchs Fenster beobachtet hatte – und sogar verglichen mit Vera –, wirkte Luces Mom glücklich und lebensfroh, da war kein Kummer, der ständig an ihr nagte.
Sie hatte nicht erfahren müssen, was ihre andere Mutter durchlebt hatte. Sie hatte keine Tochter verloren. Hatte Luce nicht verloren. Noch nicht? Ihre Eltern hatten ihr Leben auf sie ausgerichtet. Es würde sie vernichten, wenn sie starb.
Sie durfte nicht sterben, so wie es in der Vergangenheit immer der Fall gewesen war. Sie durfte nicht das Leben ihrer Eltern ruinieren, nicht diesmal. Und erst recht nicht, seit sie mehr über ihre Vergangenheit wusste. Sie würde alles unternehmen, wozu sie in der Lage war, damit sie weiter glücklich waren.
Ihre Mutter nahm Arriane, Miles, Shelby und Roland, die in der Diele herumstanden, die Jacken und Mützen ab. »Ich hoffe, deine Freunde haben Hunger mitgebracht.«
Shelby deutete auf Miles. »Um den da müssen Sie sich bestimmt keine Sorgen machen.«
Es schien fast, als hätten Luces Eltern sich schon darauf eingestellt, nicht nur Luce zu Thanksgiving willkommen zu heißen, sondern noch andere Überraschungsgäste.
Als der Chrysler New Yorker ihres Vaters durch das hohe schmiedeeiserne Tor von Sword & Cross gerollt war, hatte Luce schon ungeduldig auf ihn gewartet. Sie hatte die ganze Nacht nicht schlafen können. Wieder in Sword & Cross zu sein und am nächsten Tag in einer so merkwürdig gemischten Gesellschaft Thanksgiving zu feiern – das alles war so seltsam und aufregend, dass sie keine Ruhe fand.
Zum Glück war der Vormittag ohne Zwischenfälle verlaufen. Nachdem sie ihren Vater so lange und innig umarmt hatte wie noch nie irgendjemanden, hatte sie ihm erzählt, dass ein paar Freunde von ihr niemanden hatten, mit dem sie Thanksgiving feiern konnten.
Fünf Minuten später saßen alle im Auto.
Und jetzt waren sie alle bei Luces Eltern, in dem Haus, in dem sie ihre Kindheit verbracht hatte. Schauten sich die Fotos an der Wand an, auf denen Luce in allen möglichen und unmöglichen Altersstufen zu sehen war. Blickten vom Esstisch durch die Terrassentüren in den Garten, wie Luce das über ein Jahrzehnt jeden Morgen beim Frühstück gemacht hatte. Es kam ihr alles so unwirklich vor. Arriane folgte ihrer Mutter in die Küche, um Schlagsahne zu schlagen. Miles löcherte ihren Vater mit Fragen zu dem riesigen Fernrohr, das er in dessen Arbeitszimmer entdeckt hatte. Luce war stolz darauf, dass ihre Eltern alle ihre Freunde so selbstverständlich willkommen hießen.
Ein Hupen vor dem Haus ließ sie aufspringen.
Sie kniete sich auf das durchgesessene Sofa und spähte durch die Jalousie. Draußen stand ein rot-weißes Taxi und hustete seine Erschöpfung in die kühle Herbstluft. Die Fenster waren schwarz verblendet, aber der Fahrgast konnte nur eine einzige Person sein.
Callie.
Ein kniehoher Lederstiefel schob sich hinten aus der Tür und setzte auf dem Gehsteig auf. Eine Sekunde später war das herzförmige Gesicht ihrer besten Freundin zu sehen. Callies porzellanblasser Teint war gerötet, ihre rotbraunen Haare waren inzwischen zu einem Bob geschnitten, der weich um ihr Gesicht fiel. Ihre blassblauen Augen glitzerten. Aus irgendeinem Grund schaute sie noch einmal zurück ins Taxi.
»Was ist da zu sehen?«, fragte Shelby und spähte ebenfalls durch einen Schlitz zwischen den Lamellen. Roland schob sich an der anderen Seite neben Luce, damit er auch einen Blick nach draußen werfen konnte.
Gerade rechtzeitig, um zu beobachten, wie Daniel aus dem Taxi glitt …
Und danach Cam, der auf dem Vordersitz gesessen hatte.
Luce stockte bei ihrem Anblick der Atem.
Beide hatten lange schwarze Mäntel an, wie in der Szene am Strand, die Luce durch den Verkünder mitverfolgt hatte. Ihre Haare leuchteten in der Sonne. Und einen Augenblick lang, nur einen Augenblick, fühlte
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