Engelsmorgen
du, was mir an Miles so gut gefällt? Dass er dich einfach mag, so wie du bist, nicht erst, wenn du dir für ihn die Haare färbst.«
»Wenn ihr zwei so genau wisst, was für mich richtig ist, warum kommt ihr dann nicht gleich in ›Daniel‹- oder ›Miles‹-T-Shirts an?«
»Sollten wir bestellen«, sagte Shelby.
»Meines ist in der Wäsche«, sagte Arriane.
Luce blendete die beiden einfach aus und sinnierte stattdessen über das seltsame Zusammentreffen der Dinge. Shelby hatte Luce geholfen, als sie sich das erste Mal die Haare gefärbt hatte, kurz nach ihrer Ankunft in Shoreline, als sie für sich selbst das Zeichen für einen Neuanfang hatte setzen wollen. Und hier in Sword & Cross hatte die Freundschaft zwischen ihr und Arriane damit begonnen, dass Arriane sie gebeten hatte, ihr die Haare zu schneiden, weil ihr Luces Frisur so gut gefallen hatte. Jetzt halfen sie ihr beide, sich die Haare wieder dunkel zu färben, und das alles geschah im selben Toilettenraum, in dem Penn damals Luce die Hackfleischklümpchen aus den Haaren gewaschen hatte, nach Mollys Attacke in der Cafeteria an ihrem ersten Tag in Sword & Cross.
Das alles war so voller Erinnerungen, schön und traurig, und Luce wusste im Moment noch gar nicht, welchen Sinn diese merkwürdigen Zufälle ergaben, oder ob überhaupt. Nur eines wusste sie: dass sie sich nicht mehr verstecken wollte, weder vor sich selbst noch vor ihren Eltern; nicht vor Daniel und auch nicht vor denen, die ihr Böses wollten.
Als sie nach Kalifornien gekommen war, hatte sie eine andere werden wollen, aber auf schnelle, billige Weise. Jetzt erkannte sie, dass es nur einen Weg gab, sich wirklich zu verändern: Man musste sich innerlich wandeln. Sich die Haare jetzt schwarz zu färben, war auch nicht die richtige Antwort – sie wusste, so weit war sie noch nicht –, aber es war zumindest ein Schritt in die richtige Richtung.
Arriane und Shelby hörten auf, sich darüber zu streiten, wer denn der richtige Gefährte für Luce wäre. Sie blickten sie schweigend an und nickten. Luce spürte es auch selbst, noch bevor sie sich im Spiegel betrachtete: Die tiefe Melancholie, die sie niedergedrückt hatte – und von der sie nicht einmal geahnt hatte, welch schwere Last sie gewesen war –, hatte sich von ihr gelöst.
Sie war wieder sie selbst. Jetzt konnte es nach Hause gehen.
Achtzehn
Thanksgiving
Als Luce bei ihren Eltern in Thunderbolt durch die Haustür trat, war dort alles noch so wie immer: Die Garderobe im Flur sah aus, als würde sie unter dem Gewicht von zu viel Jacken und Mänteln gleich zusammenbrechen. Alles verströmte wie immer den typischen Geruch nach frühlingsfrischem Waschmittel, Zitronenreiniger und Möbelpolitur. Das Blumenmuster auf dem Sofa im Wohnzimmer war leicht verschossen von der Morgensonne, die durch die Ritzen der heruntergelassenen Jalousien fiel. Ein Stapel Wohnzeitschriften lag auf dem Tischchen daneben, schon recht häufig durchgeblättert, immer wieder waren Seiten mit Kassenzetteln markiert – Einrichtungsvorschläge für »Wohnen im Südstaatenstil«, für die ferne Zeit, wenn ihre Eltern irgendwann die Hypothek für das Haus abbezahlt haben würden und sich endlich wieder etwas Neues leisten konnten. Andrew, der hysterische Zwergpudel ihrer Mutter, kam auf sie zugetrippelt, um die Gäste zu beschnüffeln und Luce zur Begrüßung in den Knöchel zu beißen.
Luces Vater setzte ihren Seesack in der Diele ab und legte ihr vertraulich den Arm um die Schultern. Im schmalen Garderobenspiegel sah Luce, wie sie beide nebeneinander standen: Vater und Tochter.
Die Brille rutschte ihm weit auf die Nase vor, als er sich zu Luce hinunterbeugte und sie auf den Scheitel ihrer frisch schwarz gefärbten Haare küsste. »Willkommen zu Hause, Lucie«, sagte er. »Wir haben dich sehr vermisst.«
Luce schloss die Augen. »Ich hab euch auch vermisst.« Das erste Mal seit Wochen log sie ihren Eltern nichts vor.
Sie spürte die Wärme und schnupperte die vertrauten Thanksgiving-Gerüche. Luce atmete tief ein – und sah alles vor sich, sämtliche Gerichte, die im Herd warm gehalten wurden und nur darauf warteten, aufgetischt zu werden: der Truthahn mit Pilzfüllung – die Spezialität ihres Vaters. Apfel-Cranberry-Soße. Leichte, luftige Hefebrötchen. Und so viele Kürbis-Pekannuss-Pies – die Spezialität ihrer Mutter –, dass davon halb Georgia satt werden konnte. Sie musste die ganze Woche gekocht und gebacken haben.
Luces Mutter umfasste sie an den
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