Engelsmorgen
mein Therapeut – arbeitet mit mir daran, dass ich nicht mehr so abweisend reagiere, wenn ich neue Leute kennenlerne.«
»Und – funktioniert’s?« Luce war auch Einzelkind, aber deswegen war sie noch lange nicht kratzbürstig, wenn sie mit Fremden zu tun hatte.
»Was ich damit sagen will, ist …« Shelby rutschte verlegen hin und her. »Ich … ich bin es nicht gewöhnt zu teilen. Können wir …« Sie warf den Kopf zurück. »Könnten wir noch mal von vorn anfangen?«
»Wäre vielleicht ganz nett.«
»Okay.« Shelby holte noch einmal tief Luft. »Frankie hat dir heute Nacht offensichtlich auch nicht erzählt, dass du hier eine Zimmergenossin hast. Denn sonst hätte sie ja bemerken müssen – oder wenn sie es bemerkt hatte, bewusst verschweigen müssen –, dass ich nicht in meinem Bett lag, als du eingetroffen bist. Ich bin nämlich erst so gegen drei durch dieses Fenster da gekommen.«
Vor dem Fenster konnte Luce ein breites Gesims erkennen. Sie fragte sich, über wie viele Gesimse und Regenrinnen Selby wohl geklettert war.
Shelby gähnte demonstrativ. »Für uns Nephilim hier in Shoreline, weißt du, gelten nämlich besondere Regeln. Das Einzige, worauf die Lehrer streng achten, ist, dass wir so tun, als würden wir die Vorschriften einhalten. Das ist alles. Disziplin wird von uns nicht verlangt. Dieses Wort gibt es hier nicht. Aber das würde Frankie natürlich einer Neuen nie verraten. Vor allem nicht Lucinda Price.«
Da war er wieder. Dieser Unterton in Shelbys Stimme, wenn sie Luces Namen aussprach. Luce hätte gern gewusst, was er bedeutete. Und wo Shelby bis drei Uhr nachts gewesen war. Und wie sie im Dunkeln durch das Fenster ins Zimmer gestiegen war, ohne eine Topfpflanze umzustoßen. Und wer waren eigentlich die Nephilim?
Plötzlich musste Luce an ihre Freundin Arriane und die Achterbahn der Gefühle denken, auf die sie sie bei ihrer ersten Begegnung in Sword & Cross mitgenommen hatte. Ihre Zimmergenossin hier in Shoreline erinnerte sie äußerlich in vielem an Arriane, und auch die Empfindung, sich nie mit einer solchen Person anfreunden zu können, kannte sie bereits von ihrem ersten Tag in Sword & Cross.
Aber obwohl Arriane sie damals eingeschüchtert hatte, ja sogar gefährlich zu sein schien, hatte sie von Anfang an auf sympathische Weise durchgeknallt gewirkt. Ihre neue Mitbewohnerin in Shoreline dagegen nervte sie nur.
Shelby stand vom Bett auf und trottete ins Bad, um sich die Zähne zu putzen. Luce wühlte in ihrem Seesack, bis sie schließlich ihre Zahnbürste gefunden hatte, folgte Shelby dann und deutete verlegen auf die Zahnpasta.
»Ich hab vergessen, meine einzupacken.«
»Wahrscheinlich hat deine Berühmtheit dich so benebelt, dass du blind für solche Alltagsdinge geworden bist«, antwortete Shelby. Aber sie griff nach ihrer Tube und reichte sie Luce.
Ungefähr zehn Sekunden lang putzten sie schweigend nebeneinander die Zähne, bis Luce es nicht mehr aushielt. Sie spuckte ihren Zahnpastaschaum aus. »Shelby?«
Shelby stand tief über das Waschbecken gebeugt und spuckte auch ihren Zahnpastaschaum aus. »Ja? Was ist?«
Statt eine der Fragen zu stellen, die ihr noch vor einer Minute durch den Kopf gegangen waren, fragte Luce auf einmal: »Was hab ich im Schlaf denn geredet?«
An diesem Morgen war sie das erste Mal seit mindestens vier Wochen aufgewacht, ohne sich auch nur an die geringste Einzelheit zu erinnern. Aber bestimmt hatte sie von Daniel geträumt. Sie träumte jede Nacht von Daniel. Lebhafte, komplizierte Träume.
Doch diesmal nichts. Keine einzige federleichte Berührung eines Engelsflügels. Kein einziger Kuss seiner Lippen.
Sie starrte Shelbys Gesicht im Spiegel an. Luce brauchte Shelby, um ihrem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. Sie musste von Daniel geträumt haben. Denn wenn sie nicht von Daniel geträumt hatte … was bedeutete das dann?
»Keinen blassen Schimmer«, sagte Shelby nach einer Ewigkeit. »Du hast völlig unzusammenhängendes Zeugs genuschelt. Versuch bitte, dich beim nächsten Mal etwas klarer auszudrücken.« Sie ging ins Zimmer zurück und schlüpfte in ein Paar orangefarbene Flipflops. »Es gibt nicht mehr lang Frühstück. Kommst du?«
Luce verließ hastig das Bad. »Was soll ich denn anziehen?« Sie war immer noch im Pyjama. Francesca hatte gestern Abend nichts von irgendeiner Kleiderordnung gesagt. Aber sie hatte auch nichts davon gesagt, dass Luce eine Zimmergenossin haben würde.
»Bin ich eine Modepäpstin?«, fragte
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