Engelsmorgen
voller rätselhafter Erker und Wandnischen waren. Sie presste sich zwischen zwei Bücherregale und duckte sich dahinter.
Schritte waren zu hören. Jemand trat aus dem Zimmer auf den Korridor heraus, die Tür wurde geschlossen. Luce hielt den Atem an und wartete darauf, dass die Schritte an ihr vorbeikamen, um die Treppe hinunterzugehen.
Zuerst sah sie nur die Schuhe. Dunkelbraune Lederschuhe. Dann die schwarze Jeans. Danach ein blau-weiß gestreiftes Hemd. Und schließlich die schwer zu verkennende Haarmähne aus schwarz-goldenen Dreadlocks.
Roland Sparks war in Shoreline aufgekreuzt.
Luce wartete, bis er vorbeigegangen war, und sprang dann aus ihrem Versteck heraus. Vor Francesca und Steven fürchtete sie sich immer noch etwas, sie wusste bei ihnen nicht so recht, wie sie sich verhalten sollte, und wollte sich ihnen gegenüber auf keinen Fall eine Blöße geben. Die beiden schüchterten sie ein, sie waren so unglaublich souverän und intelligent … und ihre Lehrer. Aber Roland jagte ihr keine Angst ein, nicht mehr oder jedenfalls kaum noch. Außerdem stand er Daniel nahe, näher als alle anderen, mit denen sie in den vergangenen Tagen zu tun gehabt hatte.
Sie schlich leise und vorsichtig die Treppe hinunter und zum Haus hinaus. Roland schlenderte den Pfad zum Rand des Kliffs entlang, als hätte er keine anderen Sorgen auf der Welt, als ungestört aufs Meer zu blicken.
»Roland!«, rief Luce und lief ihm nach. Roland hatte das Ende des Wegs erreicht, wo die Küste felsig und steil zum Ozean abfiel. Reglos stand er da und schaute aufs Wasser hinaus. Überrascht spürte Luce, wie in ihrem Bauch Schmetterlinge zu flattern anfingen, als er sich langsam, sehr langsam zu ihr umdrehte.
»Hallo, hallo.« Er grinste. »Na, so was. Lucinda Price ist unter die Blondinen gegangen.«
»Oh. Ach so.« Sie fasste sich an die Haare. Wie idiotisch sie auf ihn wirken musste.
»Nein, nein«, sagte er, machte einen Schritt auf sie zu und strich ihr sanft über die kurzen blonden Locken. »Steht dir. Große Zeiten verlangen nach großen Veränderungen.«
»Was tust du hier?«
»Hab mich hier eingeschrieben«, meinte er achselzuckend. »Und jetzt hab ich mir gerade den Stundenplan geben lassen, mal ein bisschen mit den Lehrern geplaudert. Scheint ja ein recht nettes Plätzchen zu sein.«
Über seiner rechten Schulter hing ein Leinensack, aus dem etwas Langes, Spitzes, Silbernes herausragte. Als Roland den neugierigen Blick von Luce bemerkte, wechselte er die Tasche auf die andere Schulter und zurrte die Öffnung fest zu. Sie gingen nebeneinander her.
»Du bist von Sword & Cross weg?«, fragte Luce nervös. »Warum? Und warum bist du ausgerechnet hierhergekommen?«
»Ach, ich hab einfach mal frischen Wind gebraucht«, antwortete er, ohne auf ihre Frage wirklich zu antworten.
Luce wollte gern noch viel mehr von ihm wissen, vor allem, wie es den anderen ging. Arriane und Gabbe. Sogar Molly. Ob irgendjemandem außer ihnen überhaupt aufgefallen war, dass sie fehlte; ob jemand sie vermisst hatte. Aber aus ihrem Mund kam auf einmal eine ganz andere Frage. »Worüber hast du mit Francesca und Steven gesprochen?«
Rolands Miene veränderte sich plötzlich, sein Gesicht wurde härter und älter. Er wirkte weniger sorglos. »Gute Frage. Was hast du denn mitgekriegt?«
»Daniel. Ich hab dich sagen hören, dass er … Du brauchst mir nichts vorzulügen, Roland. Wie lang muss ich noch auf ihn warten, bis er zurückkommt? Ich glaub nicht, dass ich …«
»Lass uns einen Spaziergang machen, Luce.«
Nie hätte Roland Sparks in Sword & Cross den Arm um Luces Schultern gelegt. Doch an diesem Tag in Shoreline tat er es und sie fühlte sich getröstet. Sie waren nie richtige Freunde gewesen, aber er verband sie mit ihrer Vergangenheit – und dieses Band genügte, um sich bei ihm geborgen zu fühlen.
Sie spazierten am Rand des Kliffs entlang, an der Frühstücksterrasse des Speisesaals und am Westflügel des Wohnheims vorbei. Auch einen Rosengarten streiften sie, den Luce bisher noch nicht entdeckt hatte. Es war kurz vor Sonnenuntergang und das Meer und der Himmel waren violett, rosa und orange gefärbt. Wolken glitten vor der Sonne vorüber.
Roland führte sie zu einer Bank, von der aus man auf den Ozean hinausblicken konnte, weit weg von den Schulgebäuden. Als Luce sich umsah, entdeckte sie in den Fels gemeißelte Stufen, die zum Strand hinunterführten. Der Pfad begann unmittelbar vor ihnen.
»Sag mir, was du weißt«, bat Luce, um
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