Engelsmorgen
lügst deinen hübschen, smarten Freund an?« Shelby kniff die Augen zusammen und musterte Luce, die das Gefühl hatte, dass ihre Zimmergenossin auf einmal wirklich neugierig war.
»Nein«, murmelte Luce. »Ich lüg ihn nicht an, ich rede noch nicht mal mit ihm.«
Shelby lehnte sich zurück. »Warum nicht?«
»Das ist eine lange, komplizierte und ziemlich blöde Geschichte.«
»Na ja, jedes Mädchen mit nur etwas Hirn im Kopf weiß, dass es nur ein Mittel gibt, wenn du mit deinem Freund Schluss gemacht hast …«
»Nein, nein, wir haben nicht miteinander Schluss gemacht …«, fing Luce an, während Shelby gleichzeitig weiterredete: »Du brauchst eine neue Frisur.«
»Ich brauche eine neue Frisur?«
»Mach einen Neuanfang«, sagte Shelby. »Ich hab meine Haare damals krass kurz geschnitten und orange gefärbt. Meine Fresse, einmal hab ich mir sogar den Schädel total kahl rasiert, nachdem dieses Arschloch mir total das Herz gebrochen hatte.«
Am Schrank gegenüber war ein kleiner ovaler Spiegel mit einem Goldrahmen angebracht. Sogar vom Bett aus konnte Luce darin ihr Spiegelbild erkennen. Sie stellte ihren Nudelteller weg, stand auf und stellte sich davor.
Nach dem Vorfall mit Trevor hatte sie sich ihre langen Locken abgeschnitten, aber das war damals eine andere Geschichte. Außerdem waren ihre Haare sowieso zum größten Teil versengt gewesen. Und als sie nach Sword & Cross kam, hatte sie Arriane die Haare so kurz wie ihre eigenen geschnitten. Ihre eigenen wuchsen allmählich wieder nach und sie war froh darum. Trotzdem verstand sie, was Shelby mit dem »Neuanfang« meinte. Man verwandelte sich in jemand anders, man tat wenigstens äußerlich so, als wäre man nicht mehr die Person, die so viel Herzschmerz erlitten hatte. Auch wenn Luce – was für ein Glück! – nicht für immer von Daniel getrennt war, hatte sie doch andere schmerzliche Verluste zu ertragen, sie fühlte sich einsam, weil sie weit weg von ihren Eltern war, und trauerte um Penn. Wie schön war ihr Leben doch gewesen, bevor alles so kompliziert geworden war.
»Du überlegst wirklich, ob du es tun solltest, hab ich recht? Soll ich die Flasche mit dem Färbemittel unter dem Waschbecken hervorholen?«
Luce fuhr mit den Fingern durch ihre kurzen schwarzen Haare. Was würde Daniel denken? Wenn er wollte, dass sie hier glücklich war, dann musste er auch akzeptieren, dass sie ihr altes Ich aus Sword & Cross hinter sich zurückließ.
Sie drehte sich zu Shelby um. »Hol die Flasche raus.«
Vier
Fünfzehn Tage
So blond nun auch wieder nicht.
Luce hielt die Hände unter den Wasserhahn und machte damit ihre kurzen, gebleichten Haare nass. Der Donnerstag heute war mit Unterricht vollgepackt gewesen, einschließlich eines unerwartet ernsten Vortrags von Francesca über Vorsichtsmaßnahmen, die von allen Schülern zu beachten waren. Wozu auch zählte, dass man sich nicht mit Verkündern einlassen sollte, selbst wenn sie einem zufällig begegneten (Luce hatte fast das Gefühl, dass sie das direkt zu ihr sagte). Außerdem hatten sie in Bio und Mathe (zusammen mit den »normalen« Schülern im Hauptgebäude) Tests geschrieben. Und sie hatte über sich ergehen lassen müssen, dass alle anderen, Nephilim und Nicht-Nephilim, sie acht Stunden lang entgeistert angestarrt hatten. So hatte es sich jedenfalls für sie angefühlt.
Obwohl Shelby am Abend vorher im Wohnheimzimmer Luces neuen Look ziemlich cool gefunden hatte, überhäufte sie sie nicht mit Komplimenten, wie Arriane es getan hätte, oder war Luce eine verlässliche Stütze wie Penn. Als Luce sich am Morgen in die Welt hinausgewagt hatte, war sie wahnsinnig nervös und unsicher gewesen. Als Erstes war sie Miles begegnet, der aufmunternd den Daumen nach oben gereckt hatte. Aber Miles war einfach immer nett, er würde es ihr nie ins Gesicht sagen, wenn er fand, dass sie schrecklich aussah.
Dawn und Jasmine waren nach dem Vormittagsunterricht sofort zu Luce gekommen, hatten ihre Haare anfassen wollen und sie gefragt, woher sie die Idee zu diesem neuen Look hatte.
»Sieht wie Gwen Stefani aus«, nickte Jasmine anerkennend.
»Nein, eher wie Madge, hab ich nicht recht?«, sagte Dawn. »Du weißt schon, Vogue und so.« Luce wollte gerade antworten, da zeigte Dawn erst auf sich und dann auf sie und sagte: »Jetzt sind wir keine Zwillinge mehr.«
»Zwillinge?«, fragte Luce erstaunt.
Jasmine zwinkerte Luce zu. »Ach komm schon. Jetzt sag nicht, das wär dir nicht aufgefallen. Ihr beide seht euch
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