Engelsmorgen
doch so ähnlich. Na, jedenfalls war es bis vor Kurzem so. Ihr hättet wirklich Zwillinge sein können.«
Luce stand vor dem Spiegel in der Mädchentoilette des Hauptgebäudes, starrte auf ihr Spiegelbild und dachte an Dawn mit ihren ständig weit aufgerissenen Augen. Was sie gemeinsam hatten, waren die blasse Haut, rote Lippen und bis gestern die schwarzen Haare. Aber Dawn war viel zierlicher als sie. Und hatte fast jeden Tag irgendwas mit leuchtenden Farben an. Außerdem war sie immer viel munterer und aufgekratzter als Luce. Von ein paar Äußerlichkeiten abgesehen, gab es zwischen ihnen überhaupt keine Gemeinsamkeiten.
Die Tür ging auf und ein nett wirkendes dunkelhaariges Mädchen in Jeans und einem gelben Pulli kam herein. Luce kannte sie vom Sehen, sie hatten zusammen Europäische Geschichte. Amy Soundso. Sie stellte sich ans Waschbecken neben Luce und zupfte ihre Augenbrauen.
»Was hast du mit deinen Haaren gemacht?«, fragte sie nach einem schielenden Blick zu Luce.
Luce blinzelte. Mit Shelby, Dawn oder Jasmine, die sie auch erst seit Kurzem kannte, über solche Sachen zu reden, war schon seltsam genug. Aber mit diesem Mädchen hatte sie bisher noch kein einziges Wort gewechselt.
Shelbys Antwort von wegen »einen Neuanfang machen« fiel ihr ein, aber das fühlte sich wie ein schlechter Scherz an. Das Haarfärbemittel auf ihrem Kopf hatte nur bewirkt, dass sie äußerlich jetzt genauso künstlich und unwahr wirkte, wie sie sich innerlich fühlte. Callie und ihre Eltern würden sie so kaum wiedererkennen. Das war aber nicht der Punkt.
Und Daniel. Was würde Daniel davon halten? Luce fühlte sich plötzlich durch und durch falsch, selbst eine völlig fremde Person merkte das sofort.
»Ich weiß nicht.« Sie schob sich an dem Mädchen vorbei und zur Tür hinaus. »Keine Ahnung, warum ich das gemacht habe.«
Ihre Haare weißblond zu färben, würde die dunklen Erinnerungen der vergangenen Wochen nicht auslöschen können. Wenn sie wirklich einen Neuanfang wollte, dann würde sie handeln müssen. Aber wie? Was konnte sie tun? Im Moment konnte sie überhaupt nicht frei entscheiden. Ihr ganzes Leben lag in der Hand von Mr Cole und Daniel. Und beide waren weit weg.
Es machte ihr Angst, wie abhängig sie von Daniel war. Wie schnell das alles gegangen war. Er war jetzt ihre Welt, und sie wusste nicht einmal, wann sie ihn das nächste Mal wiedersehen würde, was ihr noch mehr Furcht einjagte. Sie hatte geglaubt, sie würde mit ihm in Kalifornien glückliche Tage verbringen – und nun war sie so einsam wie noch nie zuvor.
Müde schlurfte sie über das Schulgelände. Nur ein einziges Mal seit ihrer Ankunft in Shoreline hatte sie sich innerlich frei gefühlt und das war …
Mit dem Schatten im Wald gewesen. Allein.
Nach der Vorführung von Francesca und Steven während des Unterrichts gestern hatte Luce sich heute Vormittag viel mehr von ihnen erwartet. Sie hatte gehofft, dass die Schüler vielleicht selbst mit den Schatten experimentieren durften. Sie hatte sich sogar schon ausgemalt, dass sie vor den anderen zeigen konnte, was sie im Wald mit dem Schatten angestellt hatte. Wie weit sie schon gekommen war.
Doch dem war nicht so. Im Gegenteil. Der Unterricht heute hatte einen großen Rückschritt bedeutet. Ein langweiliger Vortrag über den Umgang mit den Verkündern mitsamt Verhaltensregeln für die Schüler. Was im Wesentlichen darauf hinauslief, dass sie niemals, unter keinen Umständen, selbst ausprobieren sollten, was sie am Vortag gesehen hatten.
Luce fühlte sich total frustriert. Und so kam es schließlich, dass sie sich nicht in ihr Zimmer zurückzog, sondern in Richtung Speisesaal joggte, dann weiter am Rand des Kliffs entlang bis zur Nephilim-Lodge, wo sie immer ihren Unterricht bei Francesca und Steven hatten. Auch Francescas Büro befand sich dort. Sie hatte gesagt, dass alle immer zu ihr kommen konnten, wenn sie eine Frage hatten. Zu jeder beliebigen Tageszeit.
Ohne die Schüler wirkte der Ort wie verwandelt. Düster, kalt und verlassen. Jedes Geräusch, das Luce machte, schien laut widerzuhallen. Sie konnte im oberen Stockwerk hinter einem Fenster Licht sehen. Immer noch war sie sich nicht sicher, ob sie Francesca tatsächlich erzählen sollte, was sie im Wald erlebt hatte. Dass es ihr beinahe gelungen war, einem Schatten seine Botschaft zu entreißen. So etwas war für Francesca mit ihren Fähigkeiten wahrscheinlich nicht der Rede wert. Und gleichzeitig ganz klar ein Verstoß gegen die
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