Engelsmorgen
das Schweigen zu brechen.
»Das Wasser hat nicht mehr als elf Grad«, sagte Roland.
»Ich meine was anderes«, sagte sie und schaute ihm in die Augen. »Haben sie dich hierhergeschickt, damit du auf mich aufpasst?«
Roland kratzte sich am Kopf. »Okay, dann sag ich dir jetzt mal was. Daniel tut, was er tun muss.« Er machte eine weit ausholende Bewegung zum Himmel. »Und du kümmerst dich in der Zwischenzeit um deine eigenen Angelegenheiten.« Täuschte sie sich oder nickte er dabei kurz in Richtung Wald?
»Ich? Es gibt hier für mich nichts zu tun. Ich bin nur hier, weil …«
»Totaler Quatsch.« Er lachte. »Wir haben alle unsere großen und kleinen Geheimnisse, Luce. Meines hat mich nach Shoreline geführt. Und deines dich in den Wald da drüben.«
Sie wollte protestieren, aber Roland kam ihr zuvor. »Wegen mir wirst du bestimmt keine Schwierigkeiten bekommen. Im Gegenteil, ich drücke für alles die Daumen.« Den Ausdruck in seinen Augen wusste sie nicht zu deuten. Dann wandte er seinen Blick von ihr ab und sah wieder aufs Meer hinaus. »Aber jetzt noch mal zum Wasser hier. Es ist eiskalt. Warst du trotzdem schon mal drin? Ich weiß doch, dass du gern schwimmst.«
Erst jetzt fiel Luce auf, dass sie bereits seit drei Tagen in Shoreline war, den Ozean immer vor Augen, die Brandung immer hörbar, die salzige Luft allgegenwärtig, dass sie aber noch keinen Fuß an den Strand gesetzt hatte. Und es war hier ja nicht so wie in Sword & Cross, wo ganz viele Dinge verboten waren. Sie verstand selbst nicht, warum sie bisher noch nicht einmal auf die Idee gekommen war, an den Strand zu gehen.
Sie schüttelte den Kopf.
»Ein Strand mit so eiskaltem Wasser taugt eigentlich nur für ein Lagerfeuer.« Roland blickte zu ihr. »Hast du hier schon Freunde?«
»Ein paar«, meinte Luce.
»Komm mit ihnen heute Abend runter an den Strand.« Er deutete auf die schmale Landzunge aus Sand unweit der Treppe. »Dorthin.«
Sie schielte Roland von der Seite an. »Was hast du vor?«
Roland grinste teuflisch. »Keine Sorge, ein ganz harmloses Vergnügen. Aber du kennst mich doch. Ich bin neu hier und möchte, dass mich alle gleich richtig kennenlernen.«
»Mann. Wenn du mir noch ein Mal auf die Ferse trittst, dann brech ich dir den Knöchel, das schwör ich dir.«
»Und wenn du mit der Taschenlampe nicht so herumfuchteln würdest, Shelby, dann könnten wir vielleicht auch sehen, wohin wir treten.«
Luce unterdrückte ein Lachen, während sie mit Miles und Shelby im Dunkeln über das Schulgelände stolperte. Die beiden hörten nicht auf, sich zu streiten. Es war fast elf. Shoreline lag stockfinster und still da, nur eine Eule rief ab und zu. Vom Mond war hinter seinem dicken Wolkenschleier nicht mehr als ein orangefarbener Schimmer zu erkennen. Sie hatten nur eine Taschenlampe dabei und die gehörte Shelby. Weshalb auch nur eine von ihnen den Weg deutlich sehen konnte, nämlich Shelby. Für Luce und Miles war die weite Rasenfläche, die bei Tag so glatt und gepflegt wirkte, nun voller Fallstricke – Steine, Wurzeln und eben Shelbys Fersen.
Als Roland Luce gebeten hatte, mit ein paar Freunden nachts an den Strand zu kommen, war sie erst einmal innerlich zusammengezuckt. Aber es war hier nicht wie in Sword & Cross. In Shoreline gab es keine strengen Vorschriften und keine Überwachungskameras, die jeden Schritt der Schüler aufzeichneten. Sie war nicht deswegen so nervös, weil sie Angst hatte, erwischt zu werden. Sich aus dem Wohnheim zu schleichen, war ein Kinderspiel gewesen. Eine viel größere Herausforderung stellte es für Luce dar, ein paar Freunde zusammenzutrommeln.
Natürlich hatte sie bei einer Party am Strand zuerst an Dawn und Jasmine gedacht, aber als sie im fünften Stock bei ihnen geklopft hatte, war keine Antwort gekommen. Als sie dann in ihr eigenes Zimmer zurückgegangen war, traf sie dort Shelby in einer Yoga-Tantra-Haltung an, bei der Luce allein vom Zuschauen sämtliche Glieder wehtaten. Luce wollte ihre Zimmergenossin nicht aus ihrer kostbaren Meditation aufschrecken, nur um sie zu einer improvisierten, kleinen Überraschungsparty am Strand einzuladen. Aber dann klopfte es laut an der Tür und mit Shelbys Konzentration war es sowieso vorbei.
Es war Miles. Er fragte Luce, ob sie mit ihm vielleicht noch ein Eis essen wollte.
Luce blickte zwischen Miles und Shelby hin und her. Dann lächelte sie. »Ich habe eine bessere Idee«, sagte sie.
Wenige Minuten später waren sie alle drei mit Kapuzenshirts,
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