Engelsmorgen
Verhaltensregeln, die sie am Vormittag der Klasse vorgetragen hatte.
Aber Luce spürte, dass sie unbedingt herausfinden musste, ob sie ihrer Lehrerin vertrauen konnte; ob Francesca jemand war, an den sie sich wenden konnte, wenn es ihr so erging wie heute und sie das Gefühl hatte, den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Sie ging diesmal nicht über die Terrasse, sondern betrat die Lodge durch die Vordertür. Eine Treppe führte in das Stockwerk mit den Büros hoch. Luce blickte einen Gang mit dunklen Holztüren und Oberlichten aus buntem Glas entlang. Leise schlich sie an ihnen vorbei, und erst jetzt fiel ihr ein, dass sie gar nicht wusste, welches denn das Büro von Francesca war. Nur eine Tür stand offen, die dritte von rechts, und ihr Oberlicht warf einen bunten Lichtschein auf den Dielenboden des Korridors. Luce glaubte, dort eine männliche Stimme zu hören. Danach die einer Frau, hart und kalt. Luce erstarrte. Sie blieb erschrocken stehen und lauschte.
»Es war ein großer Fehler von uns, das zu versuchen.« Francescas Stimme hörte sich feindselig an.
»Wir mussten es probieren. Wir hatten Pech.«
Steven.
»Pech?« Francesca lachte höhnisch auf. »Das war leichtsinnig und verantwortungslos. Dazu reicht ein wenig logisches Denken. Die statistische Wahrscheinlichkeit, dass ein Verkünder eine schlimme Botschaft überbringt, ist einfach zu groß. Wofür der Beweis ja wieder einmal erbracht worden ist. Du hast doch gesehen, wie es den Schülern damit ergangen ist. Sie haben es nicht verkraftet.«
Eine Pause. Luce schlich noch etwas näher heran.
»Die anderen vielleicht nicht, aber sie hat es verkraftet.«
»Ich bin nicht bereit, die Lernfortschritte einer ganzen Klasse zu opfern, nur weil da eine einzelne …«
»Francesca, darum geht es doch jetzt nicht. Wir haben hier eine hervorragende Ausbildungsstätte aufgebaut. Unsere Schüler übertrumpfen mit ihrem Abschluss alle anderen, egal von welchem Nephilim-Programm. Weltweit. Das ist alles dein Werk. Du kannst zu Recht stolz drauf sein. Aber die Lage hat sich grundlegend geändert.«
»Steven hat recht, Francesca.« Wieder eine männliche Stimme. Sie kam Luce irgendwie bekannt vor. Aber von wem stammte sie? »Den Lehrplan können Sie jetzt vergessen. Nur noch der Waffenstillstand zählt. Und die Frist, die wir dadurch haben.«
Francesca seufzte. »Glauben Sie wirklich, dass …«
Die dritte Stimme sagte: »Wie ich Daniel kenne, wird er pünktlich zur Stelle sein. Er zählt wahrscheinlich bereits jetzt die Minuten.«
»Da ist noch etwas«, sagte Steven.
Wieder eine Pause, ein Geräusch, als würde eine Schublade aufgezogen, dann ein bestürzter Ausruf. Luce hätte viel darum gegeben, wenn sie in diesem Augenblick hätte sehen können, was die anderen sahen.
»Woher haben Sie das?«, fragte die männliche Stimme. »Treiben Sie damit Handel?«
»Natürlich nicht!« Francesca wirkte verletzt. »Steven hat ihn vorgestern Nacht auf einem seiner Rundgänge im Wald gefunden.«
»Der ist doch echt, oder?«, fragte Steven.
Ein Seufzer. »Ist schon zu lange her«, murmelte die Stimme. »Ich hab schon seit Ewigkeiten keinen Sternenpfeil mehr gesehen. Daniel wird es wissen. Ich werde ihn ihm zeigen.«
»Ist das alles?«, fragte Francesca. »Und was sollen wir in der Zwischenzeit tun?«
»Um ehrlich zu sein, geht mich das nichts an.« Woher kam ihr diese Stimme nur vertraut vor? In Luces Gehirn arbeitete es. »Und es ist auch nicht meine Art, anderen …«
»Bitte«, sagte Francesca mit Nachdruck.
Im Büro war es still. Luces Herz pochte.
»Na gut. Wenn ich an Ihrer Stelle wäre? Versuchen Sie, sich darauf vorzubereiten. Wappnet euch, soweit ihr könnt. Verstärkt die Sicherheitsmaßnahmen und tut, was ihr könnt, damit alle wissen, was sie zu tun haben. Wenn die Endzeit anbricht, müssen alle gerüstet sein. Das wird kein Spaziergang.«
Die Endzeit. Arriane hatte damals davon gesprochen. Die Endzeit wäre angebrochen, wenn Cam und seine Armee in jener Nacht die Schlacht auf dem Friedhof gewonnen hätten. Aber sie hatten sie nicht gewonnen. Vielleicht hatte es ja inzwischen eine weitere Schlacht gegeben. Doch worauf hätten sich die Nephilim dann noch groß vorbereiten sollen?
Stühle wurden gerückt. Luce wich lautlos zurück. Sie durfte jetzt nicht erwischt werden. Keiner durfte wissen, dass sie dieses Gespräch belauscht hatte. Wovon auch immer da die Rede gewesen war.
Diesmal war sie froh, dass die Gebäude in Shoreline so verwinkelt und
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