Engelsmorgen
einmal ganz blass und still geworden und hatte sich sofort ins Bett verzogen.
Während Shelby jetzt Luce anstierte, als wäre ihr IQ von einem Tag auf den anderen um die Hälfte gesunken, nahm Luce auf einmal mit überscharfem Bewusstsein alles um sich herum wahr. Die Eingangshalle des Hauptgebäudes von Shoreline. Die rostbraun gestrichenen Schließfächer. Die grauen Wände. Die Mädchen, die überall herumstanden. Dawn, Jasmine und Lilith. Frisch gebügelte Nicht-Nephilim-Schülerinnen mit Strickjäckchen wie Amy Branshaw. Punkgirls, die wie Arriane aussahen, mit denen man aber nicht so viel Spaß haben konnte. Ein paar Mädchen, die Luce noch nie vorher aufgefallen waren. Mädchen, die sich jetzt die Schulbücher an den Körper pressten, Kaugummiblasen platzen ließen und auf den Boden sahen, zur Decke, irgendwohin. Sich gegenseitig Blicke zuwarfen. Nur nicht zu Luce und Shelby blickten. Obwohl klar war, dass sie alle neugierig lauschten.
Ein flaues Gefühl im Magen sagte Luce, warum. Zwischen Shelby und ihr spielte sich gerade der größte Streit zwischen zwei Mädchen aus der Nephilim-Klasse ab, der in Shoreline jemals stattgefunden hatte. Und alle Mädchen hier in der Eingangshalle wussten vor ihr, dass Shelby und sie wegen eines Jungen aneinandergeraten waren.
»Ach, du meine Güte.« Luce schluckte. »Du und Daniel.«
»Ja. Wir. Schon lange her.« Shelby wich Luces Blick aus.
»Okay.« Luce konzentrierte sich auf ihre Atemzüge. Ein und aus. Ein und aus. Kein Problem. Sie würde das bewältigen. Aber das Geflüstere der Mädchen um sie herum machte sie nervös. Sie fing an zu zittern.
»Tut mir echt leid«, meinte Shelby höhnisch, »wenn dich die Vorstellung anwidert, dass Daniel und ich …«
»Das … das ist es nicht.« Luce war angewidert. Von sich selbst. »Ich … ich dachte immer, ich sei die Einzige, die …«
Shelby stemmte die Hände auf die Hüften. »Du hast wirklich geglaubt, jedes Mal wenn du wieder für siebzehn Jahre verschwunden warst, hätte Daniel nur Däumchen gedreht und auf dich gewartet? Jetzt komm mal runter, Luce. Daniel hat ein Vorleben. Und auch ein Zwischenleben. Oder wie auch immer du es nennen willst.« Sie machte eine Pause und schielte zu Luce. »Bist du wirklich so selbstfixiert? Hast du noch nie darüber nachgedacht?«
Luce verschlug es die Sprache.
Shelby stöhnte auf und drehte sich zu den anderen Mädchen. »Dieses Östrogen-Kraftfeld muss sich unbedingt auflösen«, bellte sie und wedelte mit den Händen, als wollte sie Hühner verscheuchen. »Bewegt eure Hintern weg! Alle! Sofort!«
Während die Mädchen davonschlurften, presste Luce die Stirn gegen das kalte Metall des Schließfachs. Sie wäre am liebsten hineingekrabbelt und hätte sich darin versteckt.
Shelby lehnte sich mit dem Rücken an das Schließfach neben Luce. »Daniel ist ein Scheißfreund, sag ich dir. Und ein Lügner. Er lügt dich auch jetzt an.« Shelbys Stimme war leiser und sanfter geworden.
Da richtete Luce sich mit hochrotem Gesicht auf und ging auf Shelby los. Konnte ja sein, dass sie gerade auf Daniel total sauer war, aber deswegen durfte es sich niemand erlauben, über ihren Freund so herzuziehen.
»Boah.« Shelby wich Luces Fäusten aus. »Jetzt beruhig dich mal, hey.« Sie ließ sich auf den Boden gleiten. »Besser, ich hätte es gar nicht erwähnt. Es war nur eine einzige Nacht, eine dumme Geschichte und ist auch schon lange her. Der Kerl fühlte sich ohne dich total verloren. Ich hab dich damals nicht gekannt und fand all das Getue um dich und eure große Liebe … einfach nur total ätzend. Die kurze Story zwischen Daniel und mir ist auch der Grund, warum ich am Anfang einen solchen Groll auf dich hatte.«
Sie deutete neben sich. Luce ließ sich auch auf den Boden gleiten. Shelby versuchte ein kleines Lächeln. »Ich schwör dir, Luce, ich hab nie gedacht, dass ich dich jemals kennenlernen würde. Und ich hätte auch nie erwartet, dass du so cool bist.«
»Du findest mich cool?«, fragte Luce. »Eher total selbstfixiert, da hast du wahrscheinlich recht.«
»Genau das hab ich gemeint. Du gehörst zu den Leuten, auf die man unmöglich lang sauer sein kann, weil sie nett sind, verstehst du, was ich meine?« Shelby seufzte. »Tut mir leid, dass ich mal was mit deinem Freund hatte, und auch, dass ich so wütend auf dich war. Wird nicht mehr vorkommen.«
Wie merkwürdig. Der Streit um Daniel hatte bewirkt, dass Shelby und Luce sich nur noch nähergekommen waren. Und überhaupt,
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