Engelsmorgen
einer besten Freundin fest auf den anderen verlassen kann. Und würde das nicht alles … irgendwie sehr verkomplizieren?
»Was passiert hier eigentlich an Thanksgiving?«, fragte sie stattdessen.
»Keine Ahnung. Ich bin an Thanksgiving nie hier gewesen. Sollte ich vielleicht mal, um das herauszufinden. Bei mir zu Hause wird es riesengroß gefeiert. Mindestens hundert Leute. Menü mit zehn Gängen. Smoking.«
»Ist nicht wahr.«
»Leider doch«, meinte Miles. »Ganz großer Zirkus. Sogar mit Parkwächtern.« Er machte eine Pause. »Warum fragst du? Hey, warte … weißt du etwa noch nicht, wo du an Thanksgiving hinsollst?«
»Ähm …«
»Ich lad dich ein! Komm doch zu mir!« Er musste lachen, als sie ihn erschrocken ansah. »Bitte! Mein Bruder ist dieses Jahr Thanksgiving nicht zu Hause und er war immer meine einzige Rettung. Ich könnte dir Santa Barbara zeigen. Wir könnten das mit dem Truthahn auch einfach sein lassen und bei Super Rica die besten Tacos der Welt essen.« Miles zog eine Augenbraue hoch. »Wenn du dabei bist, wird die Qual deutlich geringer sein. Könnte sogar echt Spaß machen.«
Während Luce über die Einladung von Miles nachdachte, spürte sie auf einmal eine Hand auf der Schulter. Sie wusste inzwischen schon, wer das war. Nur eine Person konnte einem die Hand so lindernd auflegen, dass man dabei an Heilkräfte zu glauben anfing. Francesca.
»Ich habe gestern Abend mit Daniel gesprochen«, sagte sie.
Luce bemühte sich, ein ausdrucksloses Gesicht zu machen, als Francesca sich über sie beugte. War Daniel direkt zu Francesca gegangen, nachdem sie ihm das Fenster vor der Nase zugeschlagen hatte? Luce verspürte Eifersucht, ohne so recht zu wissen, warum.
»Er macht sich Sorgen um dich.« Francesca sprach nicht weiter, aber sie schien Luce zu mustern. »Ich hab ihm gesagt, dass bei dir alles gut läuft, vor allem wenn man bedenkt, dass du ganz neu bist. Und dass ich mich jederzeit um dich kümmere, wenn du etwas brauchst. Wenn du irgendwelche Fragen hast, kannst du damit immer zu mir kommen.« Ihr Blick war eine Spur härter geworden, stolz und unnachgiebig. Komm zu mir statt zu Steven, lautete die unausgesprochene Botschaft.
Und so schnell, wie sie aufgetaucht war, verschwand Francesca auch wieder. Ihr weißer Wollmantel wippte bei jedem Schritt um ihre schwarzbestrumpften Beine.
»Also … wie wär’s mit Thanksgiving?«, fragte Miles und rieb sich dabei fröhlich die Hände.
»Okay, okay.« Luce trank ihren Kaffee aus. »Ich denk drüber nach.«
Shelby ließ sich den ganzen Vormittag nicht im Unterricht blicken, wo ihnen diesmal beigebracht wurde, wie man mit einer Art Engelsgruß himmlische Ahnen herbeirief, irgendwie als würde man auf eine Mailbox im Himmel sprechen. Beim Mittagessen wurde Luce allmählich nervös. Auf dem Weg in den Matheunterricht im Hauptgebäude entdeckte sie dann endlich vor ihr die vertraute rote Daunenweste und rannte ihr nach.
»Hallo!« Luce zupfte Shelby an ihrem dicken blonden Pferdeschwanz. »Wo hast du denn gesteckt?«
Shelby drehte sich langsam um und Luce fühlte sich an ihren ersten Tag in Shoreline zurückversetzt. Shelby machte ein finsteres Gesicht.
»Alles in Ordnung?«, fragte Luce.
»Ja.« Shelby drehte sich zum nächsten Schließfach um, fummelte dort am Schloss herum und probierte mehrere Zahlenkombinationen aus, bis die Tür schließlich aufsprang. Im Schließfach befanden sich ein Football-Helm und mehrere leere Flaschen Sportgetränke. Ein Poster der Laker Girls war an die Innenseite der Tür geklebt.
»Ist das wirklich dein Schließfach?«, fragte Luce. Von den Nephilim hatte niemand ein Schließfach, jedenfalls hatte Luce davon bisher noch nichts mitgekriegt. Shelby wühlte hastig darin herum und schmiss achtlos schmutzige Socken über die Schulter.
Dann knallte sie die Tür zu und machte sich daran, am nächsten Schließfach die richtige Zahlenkombination herauszufinden. »Willst du mir jetzt einen Vortrag halten, oder was?«
»Nein.« Luce schüttelte den Kopf. »Was ist los, Shelby? Heute Morgen warst du verschwunden, du hast im Unterricht gefehlt und …«
»Jetzt bin ich wieder da, oder?« Shelby stöhnte genervt. »Frankie und Steven sind da viel lockerer als die anderen Lehrer, wenn ein Mädchen mal einen Tag für sich braucht.«
»Aber was ist denn los? Gestern Abend war doch alles noch in Ordnung, bis …«
Bis Daniel auftauchte.
Als Daniel am Fenster erschienen war, das fiel Luce erst jetzt auf, war Shelby auf
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