Engelsmorgen
es war nicht Shelbys Schuld, deshalb brauchte Luce ihre Wut auch nicht an ihr auszulassen, sondern musste Daniel zur Rede stellen. Nur eine einzige Nacht, hatte Shelby gesagt, eine dumme Geschichte. Was war das für eine Geschichte gewesen?
Bei Sonnenuntergang stieg Luce die steilen Stufen im Fels an den Strand hinunter. Es war kalt und wurde immer kälter, je näher sie ans Wasser kam. Die letzten Sonnenstrahlen brachen hinter dünnen Wolkenschleiern hervor und färbten den Ozean orange, rosa und pastellblau. Reglos erstreckte sich das Meer vor ihr. Luce hatte das Gefühl, darauf bis in den Himmel schreiten zu können.
Erst als sie vor den Überresten von Rolands Lagerfeuer stand, begriff Luce, warum sie hierhergekommen war. Sie stapfte weiter zu dem großen Lavafelsen, hinter den Daniel sie gezogen hatte. Wo sie beide getanzt hatten – und dann die wenigen kostbaren Augenblicke, die ihnen noch geblieben waren, damit vergeudet hatten, über so etwas Idiotisches wie ihre Haarfarbe zu streiten.
Callie hatte in Dover einmal mit einem Freund nach einem Streit wegen eines Toasters Schluss gemacht. Einem von ihnen war in dem Toaster ein Bagel festgeklemmt; und der andere war deswegen ausgeflippt. Luce konnte sich nicht mehr an alle Details erinnern, aber sie wusste noch, dass sie damals gedacht hatte: Welche Beziehung geht denn wegen so was in die Brüche?
Aber natürlich war es nicht um den Toaster gegangen, hatte Callie ihr später erklärt. Der Toaster sei nur der Auslöser gewesen und Symbol für alles, was zwischen ihnen nicht gestimmt habe.
Luce hasste es, dass auch Daniel und sie immer wieder zu streiten anfingen. Der Streit am Strand, wo es um ihre blond gefärbten Haare gegangen war, erinnerte sie an Callies Geschichte mit dem Toaster. Er hatte sich wie das Vorspiel zu einer größeren, viel unangenehmeren Auseinandersetzung angefühlt, die ihnen noch bevorstand.
Luce schlang zum Schutz gegen den Wind die Arme um sich. Ihr wurde klar, dass sie hierhergekommen war, um herauszufinden, was an dem Abend schiefgelaufen war. Als gäbe es hier am Strand etwas, irgendein Zeichen, das ihr verriet, warum sie wirklich so aneinandergeraten waren. Sie blickte hinaus aufs Wasser. Nichts. Sie suchte die glatte Oberfläche des Felsens ab. Nichts. Sie suchte überall, nur nicht in sich selbst. Wo hätte sie da anfangen sollen zu suchen? Sie wusste nichts über ihre Vergangenheit, sie war sich selbst ein einziges großes Rätsel. Vielleicht war die Antwort auf ihre Frage ja bei den Verkündern zu finden, aber die entzogen sich ihrem Zugriff, zumindest im Augenblick.
Luce wollte gar nicht alles Daniel in die Schuhe schieben. Sie selbst war so naiv gewesen, zu glauben, dass ihre Liebe stets über alle Zeiten hinweg Bestand gehabt hatte, dass es immer nur sie beide gegeben hatte. Daniel und sie. Aber Daniel hatte auch nie irgendetwas durchblicken lassen. Sie war völlig ahnungslos gewesen. Deshalb hatte sie das auch wie ein Schock getroffen. Sie fühlte sich total blamiert. Und das war nur noch ein weiterer wichtiger Punkt auf der langen Liste von Dingen, von denen Luce der Meinung war, dass sie sie unbedingt wissen musste und von denen Daniel ihr aus irgendeinem Grund nicht erzählen wollte.
Sie spürte auf ihren Wangen und an den Fingerspitzen etwas, das sie zuerst für Regen hielt. Aber es fühlte sich warm und nicht kalt an. Es war leicht und puderig, nicht nass. Ein leichtes Kribbeln breitete sich von dort in ihr aus. Sie wandte das Gesicht zum Himmel und wurde von einem strahlenden violetten Licht geblendet. Sie schaute so lange hinein, bis ihr die Augen schmerzten. Bis der Lichtstaub sich langsam aufs Wasser herabsenkte, nahe der Küste, und dann die Umrisse einer Gestalt annahm, die sie überall sofort erkannt hätte.
Er schien noch prächtiger und mächtiger geworden zu sein. Barfüßig schritt er über das Wasser auf sie zu. Seine breiten weißen Schwingen waren am Rand von einem starken violetten Licht umgeben und ihr Flügelschlag war kaum wahrnehmbar. Luce war überwältigt. Das Gefühl, das er in ihr erweckte, sobald sie ihn anschaute – diese Mischung aus Staunen, Ehrfurcht und Ekstase –, war stärker als sie. Sie war jedes Mal so hingerissen, dass sie nichts anderes mehr denken konnte. Aller Ärger und alle Frustration waren verschwunden. Es gab nur noch diese Anziehungskraft, die sie mit aller Macht zu ihm zog.
»Du kommst zu mir«, flüsterte sie.
Daniels Stimme ertönte über dem Wasser. »Ich hatte
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