Engelsmorgen
Wasser tropfte ihm auf sein weißes T-Shirt. Luce konnte nicht anders, sie stellte sich Miles sofort unter der Dusche vor und schluckte verlegen. Er grinste sie an, wodurch seine Grübchen sichtbar wurden und seine zahnpastaweißen Zähne. Miles sah heute hundertprozentig nach Kalifornien aus. Erstaunt stellte Luce fest, dass sie diesen Kalifornien-Look auf einmal sehr mochte.
»Hi.« Sie versteckte so viel wie möglich vom Schlafanzug und den zerzausten Haaren hinter der Tür. »Ich hab gerade deine Nachrichten gelesen. Ich gehe gern mit dir frühstücken, aber ich bin noch nicht angezogen.«
»Kein Problem, ich kann warten.« Miles lehnte sich im Flur an die Wand. Sie hörte seinen Magen laut knurren. Er verschränkte die Arme vor dem Oberkörper, um dadurch die Laute etwas abzudämpfen.
»Bin gleich fertig«, sagte Luce lachend und schob die Tür zu. Vor dem Kleiderschrank beschloss sie, alle Gedanken an Thanksgiving, ihre Eltern oder Callie weit weg zu schieben. Und auch die Frage, warum so viele wichtige Menschen in ihrem Leben ihr auf einmal entglitten.
Sie zog einen langen grauen Pulli heraus und schlüpfte in schwarze Jeans, wählte dazu große Silberohrringe aus. Dann putzte sie sich hastig die Zähne, griff nach ihrem Rucksack und warf kurz einen prüfenden Blick in den Spiegel neben der Tür.
Sie sah nicht aus wie ein Mädchen, das im Hin- und Hergezerre des Machtkampfs in einer Beziehung feststeckte, oder wie ein Mädchen, das zu Thanksgiving nicht nach Hause zu seinen Eltern fahren durfte. In diesem Moment sah sie einfach nur wie ein Mädchen aus, das sich darauf freute, gleich die Tür zu öffnen, vor der ein Junge auf sie wartete, mit dem sie sich normal und glücklich und rundum wunderbar fühlte.
Aber dieser Junge war nicht ihr Freund.
Sie seufzte und machte die Tür auf. Das Gesicht von Miles erstrahlte.
Als sie ins Freie kamen, merkte Luce, dass das Wetter umgeschlagen hatte. Zwar schien die Sonne, aber die Morgenluft war immer noch so frisch wie die Temperatur nachts, als Daniel sie auf dem Sims abgesetzt hatte. Nicht nur frisch, sondern richtig kühl.
Miles wollte ihr seine große Khakijacke umhängen, aber sie wehrte ab. »Ich brauche nur einen Kaffee, dann wird mir schon warm.«
Sie setzten sich an denselben Tisch wie schon eine Woche vorher. Sofort kamen zwei Kellner auf sie zugestürmt. Die beiden schienen mit Miles gut befreundet zu sein, der Umgangston war echt locker. Wenn Luce mit Shelby beim Essen saß, ging es nie so entspannt zu. Während Miles von den Jungs mit Fragen bestürmt wurde – Wie viele Punkte hatte er gestern Abend bei seinem Football-Videogame gemacht? Hatte er auf YouTube schon das Video gesehen, in dem ein Typ seiner Freundin einen üblen Scherz spielt? Was hatte er denn heute nach dem Unterricht vor? –, ließ Luce ihre Blicke über die Terrasse schweifen. Aber sie konnte Shelby nirgendwo entdecken.
Miles antwortete auf alle Fragen, aber er schien kein großes Interesse daran zu haben, das Jungs-Gespräch groß auszudehnen. Er zeigte auf Luce. »Das ist Luce. Sie hätte gerne einen Riesenbecher Kaffee, so stark und heiß wie möglich und …«
»Dazu die Rühreier«, sagte Luce. Sie klappte die Karte mit dem Frühstücksmenü zu, das in Shoreline jeden Tag neu zusammengestellt wurde.
»Für mich dasselbe, Jungs, und danke!« Miles reichte ihnen die beiden Speisekarten zurück und widmete sich dann ganz Luce. »Irgendwie haben wir uns die letzten Tage gar nicht mehr gesehen. Wie geht’s denn so?«
Seine Frage überraschte sie. Vielleicht auch nur deshalb, weil sie sich an diesem Morgen bisher immer nur schuldig gefühlt hatte. Es gefiel ihr, dass Miles keine Fragen stellte wie: »Wo hast du denn gesteckt?« oder »Gehst du mir etwa aus dem Weg?« Er fragte einfach nur: »Wie geht’s denn so?«
Sie strahlte ihn an, dann wurde ihr Lächeln immer kleiner, bis sie schließlich ziemlich kläglich antwortete: »Geht schon.«
»Au weia.«
Ich hatte einen fürchterlichen Streit mit Daniel, ich lüge meine Eltern an und verliere noch meine beste Freundin, hätte sie Miles am liebsten geantwortet, aber sie wusste, das konnte sie nicht. Sollte sie besser nicht. Denn das würde ihre Beziehung zu Miles auf eine Ebene heben, die ihrer Freundschaft bestimmt nicht guttun würde. Zumindest hatte Luce daran so ihre Zweifel. Sie war noch nie so richtig eng mit einem Jungen befreundet gewesen, so die Art von Freundschaft, bei der man sich alles erzählt und sich wie bei
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