Engelsmorgen
dir doch gesagt, dass ich mit dir reden wollte.«
Luce merkte, wie ihr Mund wie von selbst sprach. »Über Shelby?«
»Über die Gefahr, in die du dich selbst immer wieder begibst.« Daniel sprach ruhig und beherrscht. Sie hatte erwartet, dass die Erwähnung von Shelby bei ihm irgendeine Reaktion hervorrufen würde. Aber Daniel legte nur den Kopf leicht schräg. Er erreichte den Meeressaum, wo die Wellen an den Strand schlugen und sanft ausrollten. Dann schwebte er über den Sand weiter auf sie zu. »Was ist mit Shelby?«
»Willst du wirklich so tun, als wüsstest du nicht, was ich meine?« Sie wandte sich unwillig ab.
»Warte doch, Luce!« Daniel hatte sie erreicht und ging tief in die Knie, als seine Fußsohlen auf dem Sand aufsetzten. Als er sich aufrichtete, klappten seine Flügel nach hinten. Luce spürte den Luftzug, den sie dabei verursachten. Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, wie schwer sie sein mussten.
Zwei Sekunden später war Daniel bei ihr, umschlang sie fest mit seinen Armen und zog sie an sich. Und selbst diese zwei Sekunden erschienen ihr zu lang.
»Lass uns nicht gleich wieder streiten«, sagte er.
Sie schloss die Augen und ließ sich von ihm hochheben. Daniel küsste sie, und sie neigte ihr Gesicht ihm entgegen, zum Himmel, und gab sich ganz der Empfindung hin, mit der sie seine Nähe erfüllte. Sie spürte keine Finsternis mehr, keine Kälte, nur noch dieses violette Licht, in das sie getaucht war. Sogar das Rauschen des Ozeans wurde vom weichen Summen der Energie in Daniels Körper übertönt.
Luce langte mit ihren Händen erst um seinen Hals, dann strich sie über die starken Muskeln an seinen Schultern, berührte sachte den dicken, kräftigen Ansatz seiner Schwingen. Die Flügel fühlten sich glatt und weich an, zugleich noch viel mächtiger, als sie sie in Erinnerung hatte. Wie zwei große, schimmernde weiße Segel breiteten sie sich jetzt hinter seinem Rücken aus. Mit ihren Fingerspitzen spürte sie, welche Spannung in ihnen herrschte. Einmal war Luce über eine stramm aufgezogene Leinwand gefahren, das hatte sich ähnlich angefühlt. Aber die Flügel waren wie Seide, zart, flaumig und samtig. Sie schienen auf ihre Berührung zu reagieren, ja sich ihr sogar entgegenzudrängen, damit Luces Hände fester darüber rieben. Immer fester und fester fuhr sie mit den Fingern darüber und konnte doch nicht genug davon bekommen. Daniel schauderte.
»Ist das gut so?«, flüsterte sie, weil er manchmal so nervös zu werden schien, wenn sie miteinander immer zärtlicher wurden. »Tu ich dir auch nicht weh?«
Seine Augen blickten sie hungrig an. »Es fühlt sich wunderbar an. Besser als alles.«
Daniels Finger fuhren ihre Taille entlang, schlüpften unter ihren Pulli. Die anderen Male hatten sie die zarten Berührungen seiner Hände schwach und weich werden lassen. Heute war seine Liebkosung drängender. Beinahe grob. Sie wusste nicht, was auf einmal in ihn gefahren war. Aber es gefiel ihr.
Dann berührten seine Lippen sanft ihre, wanderten höher und ruhten einen Moment auf jedem ihrer Augenlider. Als er sich von ihr löste, schlug sie die Augen auf und schaute ihn an.
»Du bist schön«, flüsterte er.
Es war genau, was die meisten Mädchen in einem solchen Augenblick gerne hörten – nur dass Luce sich, als er das jetzt sagte, auf einmal von ihrem eigenen Körper seltsam abgelöst fühlte. Als würde er plötzlich durch den einer anderen ersetzt.
Shelby.
Aber nicht nur Shelby. Wer sagte denn, dass sie die Einzige gewesen war? Wie vielen anderen Augenlidern und Wangen hatten Daniels Küsse wohl schon gegolten? Wie viele andere Körper hatten sich bereits am Strand an ihn geschmiegt? Wie viele andere Lippen seine berührt, wie viele andere Herzen für ihn geschlagen? Wie vielen anderen Mädchen hatte er wohl schon solche Komplimente zugeflüstert?
»Was ist denn?«, fragte er.
Luce fühlte sich unwohl. Ihre Küsse waren so heiß, dass davon Fenster hätten beschlagen können. Aber sobald Daniel und sie anfingen, ihre Lippen zu anderen Dingen zu gebrauchen – miteinander reden zum Beispiel –, wurde alles furchtbar kompliziert.
Sie drehte das Gesicht weg. »Du hast mich angelogen.«
Daniel lachte sie nicht aus und wurde auch nicht wütend, was ihr fast lieber gewesen wäre. Er setzte sich in den Sand, schlang die Arme um die Knie und starrte auf die eisigen Wellen hinaus. »Wann habe ich dich denn angelogen?«
»Ach ja? Und wenn ich mich nun immer so verhalten würde wie du? Nie
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