Engelsmorgen
Francesca mit dem Arm weit ausholte, schnellte Steven mit einem Satz nach vorne, aber sie sprang geschmeidig zurück, wirbelte mit ihrem Säbel herum, stieß zu und erwischte Steven am Handgelenk. »Touché«, rief sie lachend.
Steven wandte sich zur Klasse. »Touché ist das französische Wort für ›berührt‹. Beim Fechten zählt man, wie oft der Gegner berührt worden ist, das ergibt dann die Punktzahl.«
»Wenn wir ernst miteinander gekämpft hätten«, sagte Francesca, »dann wäre Stevens Hand jetzt abgesäbelt und würde blutend auf der Terrasse liegen. Tut mir leid, mein Schatz.«
»Noch. Ist nicht. Aller Tage Abend«, sagte er. »Noch. Nicht.« Er attackierte sie erneut so schnell, dass er fast zu fliegen schien. Im Eifer des Gefechts, das nun folgte, tat Luce sich schwer, Stevens Säbel immer genau zu folgen, so blitzschnell ging alles vor sich, fuhr er kreuz und quer durch die Luft, wieder und wieder, wobei er Francesca fast mit einem schweren Hieb getroffen hätte. Doch sie duckte sich gerade noch rechtzeitig weg und griff ihn dann von hinten an.
Aber er war darauf vorbereitet und fegte ihre Klinge fort, bevor er dann, die Spitze seines Säbels auf ihren linken Knöchel gerichtet, innehielt.
»Ich fürchte, du bist heute mit dem falschen Fuß aufgestanden, Liebling.«
»Werden wir ja noch sehen.« Francesca hob ihre freie Hand und strich sich damit die Haare zurück. Beide maßen sich mit Blicken, die für jeden anderen tödlich gewesen wären.
Jede neue Runde ihres mörderischen Spiels ließ Luce nur noch angespannter dasitzen, noch alarmierter auffahren. Dass sie selbst häufig nervös war, daran war sie gewöhnt. Aber der Rest der Klasse war es heute auch. Zappelig vor lauter Aufregung. Kaum einer von ihnen konnte still sitzen bleiben, während sie Francesca und Steven beim Schwertkampf zusahen.
Luce hatte sich bis zu diesem Vormittag immer gewundert, warum denn von den Nephilim keiner in irgendeiner der Sportmannschaften von Shoreline war. Jasmine hatte nur die Nase gerümpft, als Luce sie gefragt hatte, ob Dawn und sie vielleicht mit ihr und einer weiteren Schülerin eine Schwimmstaffel bilden wollten. Bis Luce heute Morgen Lilith vor den Schließfächern hatte sagen hören, alle Sportarten außer Fechten seien »einfach nur langweilig«, hatte sie geglaubt, dass die Nephilim einfach nicht gerne Sport trieben. Aber so war es ganz und gar nicht. Sie waren nur sehr wählerisch.
Luce stöhnte innerlich auf, als sie sich Lilith beim Fechten vorstellte. Bestimmt kannte sie die ganzen französischen Fachausdrücke und warf sich mit ihrem biegsamen Körper voller Hass auf ihren Gegner. Wenn die Schüler nur alle über ein Zehntel der Fecht- und Schwertkampfkunst von Francesca und Steven verfügten, dann würde von Luce am Ende der Unterrichtsstunde nur noch ein Haufen Körperteile übrig sein.
Francesca und Steven waren wahre Meister in dieser Kunst, das konnte sogar Luce beurteilen. Geschmeidig vollführten sie ihre Attacken. Die Sonne ließ ihre Säbel funkeln und ihre wattierten Westen noch weißer erstrahlen. Francescas lange blonde Locken umrahmten ihr wie ein Heiligenschein Kopf und Schultern. Als sie um Steven herumwirbelte, wirkte sie wie eine Lichtgestalt. Ihre Füße webten mit solcher Anmut verwickelte Muster auf die Terrasse, dass ihr Kampf beinahe wie ein Tanz wirkte.
Doch die Mienen waren bei beiden hart und wild entschlossen. Jeder wollte unbedingt siegen. Nach den ersten Treffern herrschte zwischen ihnen Gleichstand. Sie mussten allmählich etwas ermüden. Sie kämpften jetzt bereits mehr als zehn Minuten, ohne dass einer von ihnen einen Treffer erzielt hatte. Stattdessen begannen sie, so blitzschnell miteinander zu fechten, dass die Linien ihrer Säbelklingen gar nicht mehr auszumachen war. Nur noch eine verschwommene Bewegung war zu sehen und ein schwaches Zischen in der Luft und das ständige leichte Klirren ihrer Klingen waren zu hören.
Funken begannen zu stieben, wenn ihre Waffen einander berührten. Funken der Liebe oder des Hasses? In manchen Augenblicken schien es beides zu sein.
Und das verstörte Luce. Denn Liebe und Hass sollten doch eigentlich einen klaren Gegensatz bilden. Standen am einen und am anderen Ende der Gefühlsskala. Dieser Unterschied war doch so klar wie … wie der zwischen Engeln und Dämonen. Das hatte sie früher jedenfalls geglaubt. Jetzt aber nicht mehr. Während sie ihren Lehrern voller Ehrfurcht zusah, blitzten auf einmal Erinnerungen von
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