Engelsnacht
im Spiegel angesehen hatte. Sie hatte nie etwas gegen ihr Spiegelbild gehabt - ihre haselnussbraunen Augen, ihre kleinen, geraden Zähne, ihre dichten Wimpern und ihre langen schwarzen Haare. Das war früher gewesen. Vor dem letzten Sommer.
Seit ihre Mutter ihr die letzten Haarsträhnen abgesäbelt hatte, hatte Luce aufgehört, in den Spiegel zu schauen. Nicht nur wegen der kurzen Haare. Luce mochte sich nicht mehr, sie mochte nicht mehr, wer sie war; und dafür wollte sie nicht auch noch den Beweis vor Augen sehen. Sie fing an, ins Waschbecken zu starren statt in den Spiegel, wenn sie sich die Hände wusch. Sie blickte stur geradeaus, wenn sie an spiegelnden Fenstern vorbeikam, und verzichtete auf Make-up-Döschen mit Spiegel.
Aber jetzt stand Luce vor dem Spiegel im leeren Mädchenklo von Augustine. Noch zwanzig Minuten bis zu dem Treffen, das Cam ihr auf seinem Goldfolienzettel vorgeschlagen hatte. Sie fand, dass sie ganz in Ordnung aussah. Ihre Haare waren endlich nicht mehr ganz so kurz und lockten sich schon wieder. Sie überprüfte ihre Zähne, drückte dann die Schultern durch und starrte in den Spiegel, als würde sie Cam in die Augen schauen. Sie musste ihm etwas sagen, etwas Wichtiges, und sie wollte sichergehen, dass sie
einen Blick aufsetzen konnte, bei dem er sie ernst nehmen musste.
Cam war heute nicht im Unterricht erschienen und Daniel genauso wenig, weshalb Luce vermutete, dass Mr Cole beide zu Arrest oder etwas Ähnlichem verdonnert hatte. Entweder das oder sie waren auf der Krankenstation. Aber Luce zweifelte nicht daran, dass Cam am vorgeschlagenen Treffpunkt auf sie warten würde.
Sie wollte ihn nicht sehen. Überhaupt nicht. Wenn sie an die Fausthiebe dachte, die er Daniel verpasst hatte, verkrampfte sich alles in ihr. Aber es war ihre Schuld gewesen, dass sich die beiden bekämpft hatten. Jedenfalls war sie der Auslöser gewesen. Sie hatte es zugelassen, dass Cam sie küsste - und ob sie es getan hatte, weil er sie verwirrte oder sie sich geschmeichelt fühlte oder sich doch ein winziges bisschen für ihn interessierte, spielte keine Rolle mehr. Jetzt spielte nur noch eine Rolle, was sie ihm gleich sagen würde: Dass zwischen ihnen beiden nichts war.
Sie atmete tief durch, zog ihr T-Shirt auf die Hüften herunter und stieß die Tür auf. Sie war bereit.
Als sie sich dem Eingangstor näherte, konnte sie ihn nicht sehen. Aber sie hatten auf dem Parkplatz mit Bauarbeiten angefangen, und dadurch war alles sehr unübersichtlich geworden. Der Asphalt war aufgerissen, Baumaschinen standen herum, und es war gar nicht so leicht, den Parkplatz zu überqueren, wie Luce feststellte. In Schlangenlinien suchte sie sich einen Weg zwischen den Hindernissen hindurch, immer bemüht, unter dem Rotlicht hindurchzutauchen. Der Gestank von frischem Asphalt stieg ihr in die Nase.
Von Cam keine Spur. Einen Augenblick kam sie sich ziemlich lächerlich vor, fast so, als sei sie auf irgendeinen dummen Scherz hereingefallen. Die hohen Eisentore waren
mit Rost überzogen. Luce blickte zwischen den Stäben hindurch auf die Straße, gegenüber standen alte Ulmen. Als sie nervös mit den Fingerknöcheln knackte, musste sie an Daniel denken. Er hatte einmal zu ihr gesagt, dass er es hasste, wenn sie das tat. Aber er war nicht hier, um sie zu ermahnen; niemand war hier. Dann bemerkte sie ein zusammengefaltetes Blatt Papier, auf dem ihr Name stand. Es war an den dicken grauen Stamm der Magnolie neben dem Backsteinhäuschen mit dem kaputten Telefon gepinnt.
Ich rette dich vor dem geselligen Abend heute. Während der Rest unserer Mitschüler Szenen aus dem Bürgerkrieg nachspielt - traurig, aber wahr -, werden du und ich die Puppen tanzen lassen. Eine schwarze Limousine mit einem goldenen Nummernschild wird dich zu mir bringen. Dachte, wir beide könnten etwas frische Luft brauchen.
- C
Luce hustete von dem beißenden Asphaltgeruch. Frische Luft war ja gut und schön, aber eine schwarze Limousine, die sie abholen sollte? Und zu Cam fahren sollte, als wäre er ein Monarch, der mit einem Fingerschnippen anordnen konnte, dass man ihm Frauen zuführte? Wo war er überhaupt?
So hatte sie sich das alles nicht vorgestellt. Sie hatte nur deswegen diesem Treffen zugestimmt, weil sie Cam klipp und klar sagen wollte, dass er viel zu forsch war und sie bedrängte und aus ihnen beiden nichts werden würde, wirklich nicht. Niemals. Das hatte sie gestern deutlich gespürt, als sie jedes Mal, wenn er mit seinen Fäusten Daniel
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