Engelsnacht
wie möglich davonrennst und nicht zurückblickst.«
Luce hatte noch so viele Fragen. »Ich will dich jetzt nicht allein lassen.«
Arriane trat entschlossen zwischen sie und stieß Luce unsanft fort. Sie zeigte in die Richtung, wo der Ausgang lag. »Tut mir leid, Luce«, sagte sie. »Höchste Zeit, dass du den Kampf uns überlässt. Wir sind darin Profis.«
Luce spürte, wie Penns Hand sich in ihre schob, und gemeinsam rannten sie los. Mit der gleichen Hast zurück zum Friedhofstor, wie sie vorher auf der Suche nach Daniel durch die Gräberreihen gestürmt war. Auf glitschigem Boden den
Abhang hoch. Zurück zwischen den kratzenden Zweigen der Lebenseichen und den umgestürzten, manchmal auch in Trümmern daliegenden Grabsteinen hindurch. Sie sprangen über die Steine und nahmen im Laufschritt den Abhang, dem kaum noch erkennbaren, großen schmiedeeisernen Tor entgegen. Heißer Wind blies Luce durch die Haare und die feuchte, schwüle Luft machte das Atmen schwer. Luce konnte den Mond nicht mehr sehen, und auch die silbernen Lichter hinter ihnen schienen verschwunden zu sein. Sie begriff nicht, was da vor sich ging. Sie begriff überhaupt nichts. Und es gefiel ihr nicht, dass alle anderen - bis auf Penn - offensichtlich besser Bescheid wussten als sie.
Ein schwarzer Blitz schlug vor ihnen ein und zerriss die Erde, die sich zu einem klaffenden Spalt öffnete. Luce und Penn konnten gerade noch rechtzeitig abbremsen. Der Riss war ungefähr so breit, wie Luce groß war, und so tief wie … sie konnten nicht bis auf den Boden des finsteren Abgrunds sehen. Es zischte und rauchte aus ihm empor.
Penn keuchte. »Luce! Ich habe Angst.«
»Folgt mir, Mädchen«, rief Miss Sophia.
Sie führte sie nach rechts, auf gewundenen Pfaden zwischen den dunklen Gräbern entlang, während hinter ihnen ein heftiger Schlag nach dem anderen zu hören war, begleitet von einem zuckenden, grellen Licht. »Nur der Schlachtenlärm und die dazu gehörigen Lichteffekte«, erklärte Miss Sophia, als wäre sie eine Touristenführerin. »Das wird noch eine Weile so weitergehen, befürchte ich.«
Luce zuckte bei jeder Explosion zusammen, aber sie rannte atemlos weiter. Erst als hinter ihr Penn laut aufschrie, drehte sie sich um. Penn taumelte, ihre Augen waren merkwürdig verdreht.
»Penn!«, brüllte Luce und streckte gerade noch rechtzeitig
die Arme aus, um ihre Freundin aufzufangen, bevor sie stürzte. Luce ließ sie sachte auf den Boden gleiten und drehte sie auf die Seite. Sie wünschte sich beinahe, sie hätte es nicht getan. Penns Schulter war von etwas Schwarzem und Gezacktem aufgeschlitzt. Es hatte sich durch ihre Haut gefräst und eine verkohlte Spur zurückgelassen, die nach verbranntem Fleisch roch.
»Ist es schlimm?«, flüsterte Penn heiser. Ihre Augenlider flatterten, sie schien sich vergeblich zu bemühen, den Kopf zu drehen, um selbst zu sehen, was mit ihrer Schulter war.
»Nein«, log Luce und schüttelte den Kopf. »Nur ein kleiner Schnitt.« Sie schluckte, jetzt bloß nicht kotzen müssen. Luce verknotete den zerrissenen schwarzen Ärmel von Penns Windjacke. »Tu ich dir weh?«
»Ich weiß nicht«, wimmerte Penn. »Ich kann nichts mehr spüren.«
»Mädchen, was ist los? Was hält euch auf?« Miss Sophia war umgekehrt.
Luce blickte zu Miss Sophia auf und wünschte sich nur eins: dass sie nicht sagte, wie schlimm Penns Verletzung aussah.
Sie tat es nicht. Sie nickte Luce kurz zu, bückte sich, schob die Arme unter Penn und hob sie hoch, wie ein Vater oder eine Mutter, die ein kleines Kind ins Bett bringt. »Leg die Arme um meinen Hals«, sagte sie zu Penn. »Es dauert nicht mehr lang.«
»Aber wie …?« Luce folgte Miss Sophia, die Penn vor sich her trug, als wäre sie federleicht. »Wie haben Sie das gem-?«
»Keine Fragen mehr«, befahl Miss Sophia. »Erst wieder, wenn wir weit weg von hier sind.«
Weit weg von hier. Luce wollte nicht weit weg von Daniel sein. Und dann, als sie schließlich durch das Tor gegangen
waren und den Friedhof verlassen hatten, als sie wieder auf dem leeren, flachen Schulgelände der Sword & Cross standen, konnte sie nicht anders. Sie blickte zurück. Und verstand augenblicklich, warum Daniel zu ihr gesagt hatte, sie solle es nicht tun.
Eine riesige Feuersäule aus goldenen und silbernen Flammen schraubte sich aus dem in tiefe Finsternis getauchten Friedhof in den Nachthimmel hoch. Sie dehnte sich über die gesamte Fläche des Friedhofs aus, ein sich emporwindender, aus tausendfachen
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