Engelsnacht
darüber nicht entscheiden können, Mr Sparks.« Eine gereizte Frauenstimme, die Luce aus dem Unterricht vom Vortag kannte. Ms Toss - der Albatros. Nach dem Vorfall mit dem Hackbraten war Luce zu spät ins Klassenzimmer gekommen, was nicht gerade den besten Eindruck bei der mürrischen, kugelrunden Biologielehrerin hinterlassen hatte.
»Wir werden hier geduldig warten, als hätten wir nichts Besseres zu tun - es sei denn, jemand möchte alle seine Vergünstigungen für diese Woche einbüßen.« Ein Murren erhob sich zwischen den Gräbern. »Irgendwann wird uns Miss Price hoffentlich noch mit ihrer Anwesenheit beehren.«
»Hier bin ich«, rief Luce außer Atem. Noch eine riesige Engelsstatue, dann stand sie vor den anderen.
Ms Toss hatte die Hände in die Hüften gestemmt. Sie trug wieder ein weites schwarzes Hängekleid, hatte ihre graubraunen Haare zu einem Knoten aufgesteckt und blickte Luce aus ihren glanzlosen braunen Augen verärgert an. Biologie war noch nie Luces Lieblingsfach gewesen, und wenn sie so weitermachte, würden ihre Noten hier bestimmt nicht besser werden.
Hinter dem Albatros standen Arriane, Molly und Roland, dahinter aber erhob sich die riesengroße Statue eines weißen Marmorengels. Dieser Engel war prächtiger und mächtiger als alle übrigen Engel auf dem Friedhof und an seinem Sockel, das hatte sie zuerst gar nicht bemerkt, lehnte - Daniel.
Er trug dieselbe schwarze Lederjacke und denselben roten Schal wie bei ihrer ersten Begegnung. Seine blonden Haare wirkten zerzaust, als hätte er sie nach dem Aufstehen noch
nicht gekämmt … er musste wie sie hastig aus dem Bett gesprungen sein … Daniel … wie er wohl aussah, wenn er schlief? … Luce errötete, was sie verlegen machte. Ihr Blick wanderte weiter zu seiner Stirn, zu seinen Augen.
Er schaute sie an.
»Tut mir leid«, stieß sie hervor. »Ich wusste nicht, wo wir uns treffen. Ich schwöre, dass ich -«
»Spar dir das«, sagte Ms Toss. »Du hast schon genug von unserer Zeit vergeudet. Ich nehme an, ihr wisst alle, welche Regelverletzungen euch heute Morgen hierhergebracht haben. In den nächsten zwei Stunden könnt ihr darüber nachdenken, ob ihr euch in Zukunft nicht eines Besseren besinnen wollt. Tut euch zu zweit zusammen. Ihr wisst, was ihr zu tun habt.« Sie blickte zu Luce und stieß einen Seufzer aus. »Wer von euch kümmert sich um sie?«
Bestürzt bemerkte Luce, dass alle wegguckten oder ihre Füße anstarrten. Nach einer quälend langen Minute tauchte schließlich noch ein fünfter Schüler hinter einer Gruft auf.
»Ich mach das.«
Cam. Sein eng anliegendes schwarzes T-Shirt mit V-Ausschnitt spannte sich um seinen muskulösen Oberkörper. Er war fast einen Kopf größer als Roland, der zur Seite wich, als Cam an ihm vorbeidrängte und auf Luce zuging. Seine Augen bohrten sich in sie. Er bewegte sich selbstbewusst, weich und geschmeidig, während Luce wie erstarrt dastand. Sie wollte gerne ihre Augen von ihm abwenden, weil es sie verlegen machte, wie Cam sie vor allen anderen fixierte. Aber aus irgendeinem Grund schaffte sie es nicht - bis Arriane dazwischenging.
»Sie gehört mir«, erklärte sie. »Ich hab als Erste meine Ansprüche angemeldet.«
»Nein«, sagte Cam. »Hast du nicht.«
»Doch, hab ich. Du hast mich auf deinem seltsamen Ausguck da hinten nur nicht gehört«, erwiderte Arriane hastig. »Ich will sie.«
»Ich -«, setzte Cam an.
Arriane streckte erwartungsvoll den Kopf vor. Luce schluckte. Würde es jetzt zum Streit kommen? Würde er jetzt erklären, dass er sie wollte? Konnten sie das nicht beilegen? Ihre Strafarbeit zu dritt verrichten?
Cam packte Luce am Arm. »Ich treff mich später mit dir, okay?« Er sagte das, als hätte sie ihn um ein solches Versprechen gebeten.
Die anderen hüpften alle von den Grabsteinen, auf denen sie gesessen hatten, und marschierten auf einen Schuppen zu. Luce folgte ihnen. Sie hielt sich an Arriane, die ihr eine Harke reichte.
»Da. Willst du lieber den Racheengel oder die beiden Liebenden?«
Über den Zwischenfall in der Cafeteria redeten sie nicht, und Luce fragte auch nicht, wie es Arriane in der Krankenstation ergangen war; sie hatte das Gefühl, dass dafür jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war. Ein Stück weiter vorne entdeckte sie eine überlebensgroße Skulptur. Ein Mann und eine Frau, beide nackt, die sich umarmten. Luce hatte in Dover einmal einen Kurs über französische Bildhauerkunst belegt und fühlte sich an die berühmte Skulptur von Rodin
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