Engelsnacht
überall Stacheldraht angebracht war. Sie fuhr mit der Hand über die Ornamente, zeichnete mit den Fingern das verschlungene Muster aus Blüten, Ranken und Blättern nach. Das Tor musste noch aus der Zeit des Bürgerkriegs stammen, als auf dem Friedhof die gefallenen Soldaten beerdigt wurden, wie Arriane ihr erzählt hatte. Aus einer Zeit, als hier noch keine Schule für schwer erziehbare Jugendliche war. Als der ganze Ort wahrscheinlich weniger düster und verlassen gewirkt hatte.
Seltsam - das gesamte Schulgelände war flach wie ein Brett, aber der Friedhof schien in einer ausgedehnten Bodensenke angelegt worden zu sein. Vor Luce erstreckten sich lange Reihen einfacher Grabsteine, gleichmäßig angeordnet, man hätte fast meinen können, es handle sich um Zuschauer auf den Tribünen einer Sportarena.
Aber weiter unten, zur Mitte des Friedhofs hin, wo der tiefste Punkt der Senke lag, löste sich diese Ordnung in ein
Labyrinth verschlungener Pfade zwischen prächtigen Grabmälern mit Marmorstatuen und reich verzierten Gruften auf. Wahrscheinlich waren dort gefallene Offiziere bestattet, auf alle Fälle jedoch Soldaten aus vermögenden Familien. Sicherlich boten sie aus der Nähe einen schönen Anblick. Doch vom Eingang aus wirkte es, als würden sie mit ihrem schieren Gewicht den gesamten Friedhof nach unten ziehen, fast als würde er allmählich in einem Schlund versinken.
Hinter ihr waren Schritte zu hören. Luce drehte sich blitzschnell um. Hinter einem Baum tauchte eine kleine, stämmige Person in Schwarz auf. Penn! Luce wäre ihr am liebsten um den Hals gefallen. Sie war noch nie so glücklich gewesen, jemanden zu sehen - obwohl sie sich kaum vorstellen konnte, dass Penn irgendwas angestellt hatte.
»Bist du nicht etwas spät dran?«, fragte Penn. Sie hielt einen halben Meter vor Luce und schüttelte lächelnd den Kopf. Dieser arme Neuling!
»Ich warte hier schon seit zehn Minuten«, sagte Luce. »Bist du nicht diejenige, die zu spät ist?«
Penn grinste. »Keineswegs. Ich bekomme nie eine Strafarbeit aufgebrummt. Ich bin Frühaufsteherin und mache hier nur einen Morgenspaziergang.« Achselzuckend schob sie ihre rote Brille hoch. »Aber du wurdest hierher bestellt, zusammen mit fünf anderen Unglücksraben, die von Minute zu Minute wütender werden, weil sie auf dich warten müssen. Sie sind alle da unten beim Engel.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und deutete über Luces Schulter auf das höchste Grabmal, das in der Mitte des tiefer gelegenen Friedhofsbereichs aufragte. Davor konnte sie eine Gruppe schwarzer Gestalten erkennen.
»Es hat nur geheißen: Strafarbeit auf dem Friedhof«, sagte
Luce in einem schwachen Versuch, sich zu verteidigen. »Keiner hat mir erklärt, wo ich hinsoll.«
»Jetzt erkläre ich’s dir: Treffpunkt ist der Engel. Und jetzt ab mit dir«, sagte Penn. »Du machst dir hier keine Freunde, wenn du ihnen noch mehr von ihrem Morgen stiehlst.«
Luce schluckte. Am liebsten hätte sie Penn gebeten, sie zum Engel zu begleiten. Es sah dort drunten alles so verworren aus, wie ein Labyrinth, und Luce wollte sich auf dem Friedhof nicht verlaufen. Mit einem Mal fühlte sie sich unglaublich verloren, sie sehnte sich nach zu Hause und sie wusste, dass dieses Gefühl zwischen den Gräbern nur noch stärker werden würde. Sie zögerte und ließ nervös ihre Finger knacken.
»Luce?« Penn schubste sie von hinten. »Du stehst immer noch hier.«
Luce versuchte, Penn dankbar zuzulächeln, aber sie brachte nur eine gequälte Grimasse zustande. Dann eilte sie den Abhang hinunter. Auf den Engel in der Mitte des Friedhofs zu.
Die Sonne war immer noch nicht aufgegangen, aber gleich würde es so weit sein. Diese letzten Augenblicke, das merkte Luce jetzt, waren besonders unheimlich. Sie stürmte an den Reihen der einfachen Grabsteine vorbei. Früher einmal waren sie bestimmt alle senkrecht aufgerichtet gewesen, aber nun waren sie schon so alt, dass die meisten von ihnen sich zur Seite neigten. Ein Totentanz riesengroßer Dominosteine, dachte Luce.
Sie landete mit ihren schwarzen Turnschuhen in Schlammpfützen, wäre ein paar Mal beinahe auf glitschigen Blättern ausgerutscht. Als sie die einfachen Gräber hinter sich gelassen hatte und bei den prächtigen Grabmälern angelangt war, verlor sie die Orientierung. Atemlos blieb sie stehen. Stimmen.
Wenn sie nicht mehr so laut keuchte, konnte sie Stimmen hören.
»Noch fünf Minuten und ich gehe«, sagte ein Junge.
»Pech für Sie, dass Sie
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