Engelsnacht
bleiben lassen, hier Freundschaften schließen zu wollen. Sie sprang auf den Boden und machte sich daran, das Moos und die Flechten unten am Sockel der Statue mit der Harke zu attackieren.
Aber Arrianes Neugier war nun geweckt. Sie sprang ebenfalls herunter und hinderte Luce daran, weiterzuarbeiten, indem sie mit ihrer Harke über die von Luce fuhr und sie festklemmte.
»Ach, komm schon, erzählʹs mir, erzähl’s mir, erzähl’s mir«, bettelte sie.
Arrianes Gesicht war ganz nahe an ihrem und Luce musste an gestern denken. Als sie sich in der Cafeteria über Arriane beugte, nachdem sie zuckend zusammengebrochen war. Da hatten sie doch einen Moment wirklicher Nähe geteilt. Und es gab auch die andere Luce in ihr, die es danach drängte, endlich zu reden. Der Sommer mit ihren Eltern war erdrückend lang gewesen. Sie seufzte, lehnte kurz die Stirn auf den Stiel ihrer Harke.
Ein salziger, nervöser Geschmack füllte ihren Mund, den sie durch Schlucken nicht wegkriegte. Das letzte Mal, dass sie davon zu erzählen versucht hatte, war vor Gericht gewesen. Sie glaubte, alles vergessen zu haben. Aber je länger Arriane sie anstarrte, desto deutlicher und klarer erinnerte sie sich an ihre Worte von damals. Und schließlich kamen sie ihr über die Lippen.
»Ich war mit einem Freund zusammen«, fing sie nach einem langen, tiefen Atemzug an. »Da passierte etwas Schreckliches.« Sie schloss die Augen und hoffte inständig, dass die Szene nicht unter ihren Augenlidern explodieren würde. »Plötzlich schlugen Flammen empor. Ich schaffte es, aus dem Feuer herauszukommen … und er nicht.«
Arriane gähnte, die Szene schien sie weit weniger in Furcht und Schrecken zu versetzen als Luce.
»Später konnte ich mich nicht mehr daran erinnern, wie es dazu gekommen war«, fuhr Luce fort. »Ich weiß keine Einzelheiten mehr … alles, was ich dem Richter sagen konnte, war … ich glaube, sie haben mich für verrückt gehalten.« Sie versuchte zu lächeln, aber es wirkte gequält.
Luce war überrascht, als Arriane ihr daraufhin tröstend die Hand auf die Schulter legte. Eine Sekunde lang blickte sie Luce ernst an. Dann breitete sich auf ihrem Gesicht wieder das gewohnte Grinsen aus.
»Wir werden alle immer so missverstanden. Ist doch so, oder?« Sie pikste Luce mit dem Finger in den Bauch. »Ist noch gar nicht so lange her, da haben Roland und ich uns darüber unterhalten, dass wir mit überhaupt keinem Pyromanen befreundet sind. Wo doch jeder weiß, dass man einen guten Zündler braucht, wenn man einen Schulstreich hinlegen will, der die Mühe wert ist.« Sie machte bereits Pläne. »Roland hat gemeint, vielleicht der neue Junge, Todd, aber
ich habe auf dich getippt. Wir sollten mal alle zusammen was unternehmen.«
Luce schluckte. Sie war keine Pyromanin. Aber es hatte sie bereits viel zu sehr mitgenommen, über die Vergangenheit zu sprechen; sie hatte nicht mehr die Kraft, sich dagegen zur Wehr zu setzen.
»Mann, wenn Roland das erst erfährt«, sagte Arriane und nahm ihre Harke fort. »Unsere schönsten Träume werden mit dir wahr.«
Luce öffnete den Mund, um zu protestieren, aber Arriane war schon davongestürmt. Perfekt, dachte Luce. Nun konnte es nur noch Minuten dauern, bis alle hier auf dem Friedhof ihre Geschichte erfahren hatten. Einschließlich Daniel.
Sie schaute zur Statue hoch. Obwohl sie schon viele Blätter, Moos und Flechten entfernt hatte, wirkte der Racheengel so schmutzig wie vorher. Wenn nicht noch schmutziger. Diese Reinigungsaktion war so sinnlos. Sie bezweifelte, dass jemals jemand auf diesen Friedhof kam. Und sie bezweifelte auch, dass die anderen fünf noch arbeiteten.
Ihr Blick fiel wie zufällig auf Daniel, der tatsächlich emsig beschäftigt war. Er polierte mit einer Stahlbürste sorgfältig die Bronzeinschrift auf einem Grabstein und hatte sogar die Ärmel seiner Jacke und seines Sweaters hochgeschoben. Er schien so in seine Tätigkeit versunken, dass er für nichts anderes Interesse hatte. Luce seufzte und lehnte sich an den Engel, um ihm zuzuschauen. Sie konnte einfach nicht anders.
So war er schon immer, ganz vertieft in seine Arbeit.
Luce runzelte die Stirn. Wo kam dieser Satz denn her? Sie hatte keine Ahnung, was damit gemeint war. Aber sie hatte diesen Gedanken gedacht. Einer dieser Sätze, wie sie sich manchmal in ihrem Kopf formten, kurz bevor sie einschlief. Sinnlos und inhaltslos, ohne Bezug zur Welt außerhalb ihrer
Träume. Aber jetzt war sie wach, bei vollkommen klarem
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