Engelsnacht
den neunten Kreis der Hölle hinab -«
»Schon gut, schon gut«, unterbrach Luce ihre Freundin lachend. »Du bist ja schlimmer als meine Mutter. Jetzt mach dich mal locker.« Eine Sekunde lang hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie nicht bei ihren Eltern anrief. Schließlich war nur ein Telefongespräch in der Woche erlaubt. Aber sie wusste, dass Callie total ausflippen würde, wenn sie nicht die erste Möglichkeit zur Kontaktaufnahme nutzte. Seltsamerweise fand sie es immer beruhigend, Callies hysterische Stimme zu hören. Das war einer der vielen Gründe, warum sie so gut zueinanderpassten: Callies ständige Empörung ließ Luce immer ganz ruhig und friedlich werden. Sie sah Callie genau vor sich, wie sie auf ihrem orangefarbenen Teppich im Wohnheimzimmer aufgeregt hin und her ging, eine Schönheitsmaske im Gesicht und die Zehennägel frisch lila lackiert.
»Halt dich nicht mit so was auf!«, schnaubte Callie. »Jetzt erzähl endlich. Wie sind die anderen denn? So, dass man dauernd vor ihnen Angst haben muss? Und die Lehrer? Wie ist das Essen?«
Durch das Telefon konnte Luce im Hintergrund auf dem winzigen Fernseher in Callies Zimmer »Ein Herz und eine Krone« laufen hören. Luces Lieblingsszene war immer gewesen, wenn Audrey Hepburn im Zimmer von Gregory Peck aufwacht und glaubt, sie hätte alles nur geträumt. Luce schloss die Augen und sah alles genau vor sich. Sie ahmte Audrey Hepburns noch schläfrige Stimme nach und sagte: »Da war ein Mann, er war so gemein zu mir. Es war wunderschön.« Luce wusste, dass Callie die Stelle sofort erkennen würde.
»Prinzessin, mich interessiert dein Leben«, antwortete Callie.
Leider gab es von der Sword & Cross nichts zu erzählen, was man als wunderschön hätte bezeichnen können. Und wenn Luce an Daniel dachte, was ungefähr zum achtzigsten Mal an diesem Tag der Fall war, dann … dann stellte sie fest, dass die einzige Parallele zwischen ihrem Leben hier und dem Film »Ein Herz und eine Krone« darin bestand, dass sowohl sie als auch Audrey Hepburn mit einem Kerl zu tun hatten, der unhöflich, abweisend und offensichtlich nicht an ihnen interessiert war. Luce lehnte den Kopf gegen die beigefarbene Wand der Telefonzelle. Jemand hatte dort die Worte NUTZE DIE ZEIT eingeritzt. Unter normalen Umständen hätte Luce ihrer besten Freundin jetzt alles über Daniel erzählt.
Aber aus irgendeinem Grund tat sie es nicht.
Was immer sie jetzt über Daniel erzählen würde, hätte in keinster Weise mit irgendetwas zu tun, das tatsächlich zwischen ihnen passiert war. Und Callie fuhr total auf Jungs ab, die sich um ein Mädchen bemühten. Sie mussten ihr erst einmal beweisen, dass sie ihre Zuneigung auch wert waren. Callie würde hören wollen, wie oft er Luce die Tür aufgehalten hatte, oder ob er bemerkt hatte, wie gut ihre französische Aussprache war. Callie fand nichts Falsches daran, wenn Jungs die Sorte von schnulzigen Liebesgedichten verfassten, die Luce niemals würde ernst nehmen können. Wenn sie es sich recht überlegte, fiel ihr zu Daniel überhaupt nicht viel ein, was sie Callie sagen konnte. Schon eher würde es da Callie interessieren, etwas über einen Jungen wie Cam zu erfahren.
»Na ja, weißt du, es gibt da einen Jungen«, flüsterte Luce in den Hörer.
»Ich wusste es!«, kreischte Callie. »Name?«
Daniel . Daniel. Luc räusperte sich. »Cam.«
»Klingt direkt und unkompliziert. Das spür ich von hier. Erzähl alles von Anfang an.«
»Na ja, weißt du, viel ist noch nicht zwischen uns passiert.«
»Aber er findet dich natürlich umwerfend, bla, bla, bla. Ich hab dir doch gesagt, dass du mit deinen kurzen Haaren wie Audrey aussiehst. Jetzt komm mal zur Sache.«
»Also, das war -« Luce unterbrach sich mitten im Satz. Sie hatte Schritte in der Eingangshalle gehört. Sie steckte den Kopf aus der Telefonzelle, um zu sehen, wer ihr die schönste Viertelstunde in der ganzen Woche kaputt machte.
Cam kam auf sie zu.
Wenn man vom Teufel spricht. Sie schluckte die Worte hinunter, die ihr schon auf der Zunge lagen. Ein Satz, der sie bereits langweilte, noch bevor sie ihn ausgesprochen hatte. Er hat mir ein Plektrum mit seiner Zimmernummer geschenkt. Sie hatte es noch immer in ihrer Tasche stecken.
Cam schien nichts dabei zu finden, dass er sie bei ihrem Telefongespräch störte. Was für ein Glück, dass sie den letzten Satz nicht mehr gesagt hatte. Er war der Einzige, der seine Schulklamotten im obligatorischen Schwarz nicht wechselte, sobald der
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