Engelsnacht
vollführte nun einen wirbelnden Tanz um den Deckenventilator. Was gerade noch zu ertragen gewesen wäre. Vielleicht. Aber er machte dazu einen Höllenlärm, einen Lärm, wie ihn Luce das letzte Mal gehört hatte, als das Uhuküken aus seinem Nest gefallen und erstickt war. Sie wünschte sich, Cam würde aufhören, sie so anzusehen. Sie wünschte sich, seine Aufmerksamkeit würde durch irgendetwas abgelenkt. Sie wünschte sich -
Daniel Grigori käme herein.
Und das tat er dann auch. Die Rettung kam in Gestalt eines Jungen mit abgerissenen Jeans und in einem löcherigen weißen T-Shirt. Nach einem Erlöser sah er wirklich nicht aus, wie er da hereingeschlurft kam, einen großen Stapel Bücher unter dem Arm, mit müden grauen Augen und fahler grauer Haut. Er sah richtig fertig aus. Seine blonden Haare hingen ihm wirr in die Stirn, und als er Luce und Cam entdeckte, schien er sie feindselig zu mustern. Luce war so damit beschäftigt, sich zu fragen, was sie Daniel jetzt schon wieder getan hatte, dass sie das Unglaubliche, das soeben geschehen war, beinahe nicht bemerkt hätte: In der Sekunde, bevor die Eingangstür sich hinter Daniel geschlossen hatte, war der Schatten hindurchgeschlüpft und in der Nacht verschwunden. Es war, als hätte jemand einen riesengroßen Staubsauger genommen und die ganze Atmosphäre gereinigt.
Daniel nickte ihnen nur zu und verlangsamte seine Schritte nicht, als er an ihnen vorbeiging.
Als Luce Cam einen Blick zuwarf, bemerkte sie, dass er Daniel hinterherstarrte. Dann wandte er sich ihr zu und sagte lauter als nötig: »Hätt ich fast vergessen. Ich gebe heute Abend in meinem Zimmer eine kleine Party. Gleich nach Soziales. Würde mich freuen, wenn du kommst.«
Daniel war immer noch in Hörweite. Luce hatte keine Ahnung, was mit »Soziales« eigentlich gemeint war, aber sie hatte ausgemacht, sich vorher mit Penn zu treffen. Dann wollten sie gemeinsam dorthin gehen.
Ihre Augen bohrten sich in Daniels Hinterkopf. Luce musste Cam eine Antwort geben, und warum sollte sie auch nicht zu seiner Party kommen. Aber als Daniel sich umdrehte und sie ansah, merkte sie, dass seine Augen traurig waren. Ja, sie hätte schwören können, seine Augen waren traurig. Da klingelte das Telefon, Cam streckte die Hand nach dem Hörer aus und sagte: »Das ist für mich. Kommst du zu meiner Party, Luce?«
Daniel nickte beinahe unmerklich.
»Ja«, sagte Luce zu Cam. »Ja, ich komme.«
»Ich sehe immer noch nicht ein, warum wir uns so beeilen müssen.« Luce lief keuchend neben Penn her und versuchte, mit ihr Schritt zu halten. Sie waren quer über das Schulgelände zur Großen Aula unterwegs, wo das rätselhafte »Sozialtreffen« am Mittwochabend stattfinden sollte, über das ihr Penny immer noch nichts Genaueres erzählt hatte. Luce hatte gerade genug Zeit gehabt, in ihr Zimmer hochzustürzen, etwas Lipgloss aufzutragen und in ihre bessere Jeans zu schlüpfen - für den Fall, dass es sich um diese Sorte von Soziales handeln sollte. Nach dem Treffen mit Cam und
Daniel hatte sie sich gerade wieder beruhigt, als auch schon Penn in ihr Zimmer platzte und sie schleunigst zur Tür hinausbugsierte.
»Leute, die chronisch zu spät kommen, werden wahrscheinlich nie verstehen, wie nervig das für die Leute ist, die pünktlich und normal sind. Halt dich mal besser an den Stundenplan!«, schimpfte Penn, während sie über den nassen Rasen schlitterten.
»Ha!«, ertönte plötzlich ein Lachen hinter ihnen.
Luce drehte sich um und ihr Gesicht hellte sich auf, als sie Arriane bemerkte, die sie im Joggingtrab eingeholt hatte. »Welcher Seelenklempner hat dir denn gesagt, dass du normal bist, Penn?« Arriane fasste Luce am Ellenbogen. »Pass auf, wo du hintrittst. Es gibt hier richtig sumpfige Stellen!«
Luce bremste gerade noch rechtzeitig ab, im Morast hätte sie jetzt nicht landen wollen. »Kann mir jetzt mal jemand sagen, wohin wir überhaupt unterwegs sind?«
»Mittwochabend«, meinte Penn nur. »Unser Sozialabend.«
»Und wird da … wird da getanzt oder so was?«, fragte Luce, die bereits Daniel und Cam auf der Tanzfläche vor sich sah.
Arriane brach in Gelächter aus. »Vielleicht so was wie ein Totentanz. Aus Langeweile. An den Sprachgebrauch hier auf der Sword & Cross musst du dich erst noch gewöhnen. Das ist nämlich so: Sie müssen für uns neben dem Unterricht noch andere Gemeinschaftsaktivitäten organisieren, aber gleichzeitig haben sie einen richtigen Horror davor. Und entsprechend sieht dann auch
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