Engelsnacht
tiefes, schweres Ächzen. Sie blickten beide erschrocken hoch. Luce schrie auf, als der Marmorengel über ihnen zu schwanken begann, wie eine Birke, die von einer Böe geschüttelt wird. Schließlich verlor er den Halt und schien eine Sekunde lang in der Luft zu schweben.
Luce und Daniel standen wie erstarrt da und schauten.
Beide wussten, dass die Statue gleich auf sie herabfallen würde. Der Kopf des Engels neigte sich ihnen langsam entgegen - und dann krachte die Statue auf sie herunter. Luce spürte, wie Daniels Arm sie um die Hüfte fasste, erstaunlich sicher, als wüsste er genau, wie ihr Körper sich in seinem Arm anfühlen würde. Blitzschnell drückte er sie nach unten. Gerade noch rechtzeitig, bevor der Engel vollends umstürzte. Er landete mit einem dumpfen, lauten Aufprall auf dem Boden, den Kopf in den Schlamm gebohrt, einen Fuß immer noch auf dem Sockel, sodass unter ihm eine kleine Höhle frei geblieben war, in der nun Daniel und Luce kauerten.
Sie keuchten schwer, Daniels Augen waren vor Schreck weit aufgerissen. Zwischen ihren Körpern und dem schweren Marmor des Engels waren nur noch ein paar Zentimeter.
»Luce?«, flüsterte er.
Sie brachte kein Wort heraus, sondern nickte nur.
Seine Augen wurden schmal. »Was hast du gesehen?«
Dann erschien eine Hand und Luce wurde aus dem Hohlraum unter der Statue herausgezogen. Ein kurzes Zerren, dann war sie wieder im Freien. Sie blinzelte ins Sonnenlicht. Die anderen waren herbeigeeilt. Arriane, Molly und Roland standen mit offenen Mündern da. Ms Toss starrte Luce nur stumm an. Cam, der sie herausgezogen hatte, half ihr auf die Beine.
»Alles in Ordnung?«, fragte er, musterte sie kurz von oben bis unten, ob sie auch nicht verletzt war, und wischte ihr ein paar Blätter und Dreck von der Schulter. »Ich hab gesehen, wie die Statue umkippte, und bin gleich losgerannt, um sie vielleicht noch irgendwie abzustützen, aber da war es schon zu spät … du musst zu Tode erschrocken sein.«
Luce gab keine Antwort. Natürlich war sie erschrocken, aber das beschrieb nicht annähernd, was sie alles fühlte.
Daniel, der hinter ihr herausgekrochen kam, stand auf und ging einfach davon. Es kümmerte ihn nicht, ob sie unverletzt war.
Mit großen Augen blickte Luce ihm nach, er drehte sich nicht einmal mehr nach ihr um. Aber ihr fiel auch auf, dass es die anderen überhaupt nicht zu interessieren schien, ob ihm vielleicht etwas passiert war.
»Was habt ihr angestellt?«, fragte Ms Toss.
»Ich weiß nicht, Ms Toss«, sagte Luce. »Wir standen da und haben gearbeitet, und dann … dann ist die Statue plötzlich umgefallen.«
Der Albatros bückte sich, um den gestürzten Engel zu untersuchen. Der Kopf war in der Mitte gespalten. Sie murmelte etwas von Kräften der Natur und altem Gestein.
Wenn da nicht die Stimme in Luces Ohr gewesen wäre, die noch lange in ihr nachhallte, auch nachdem alle wieder an die Arbeit gegangen waren. Es war Molly gewesen. Sie hatte hinter Luce gestanden und geflüstert: »Das nächste Mal solltest du besser auf mich hören, wenn ich dir einen guten Ratschlag gebe.«
Fünf
Der innere Kreis
»Jag mir nicht noch mal einen solchen Schrecken ein!« Callies Stimme klang vorwurfsvoll. Es war Mittwochabend, und Luce hatte sich in die winzige Telefonkabine in der Eingangshalle gequetscht. Privatsphäre konnte man das kaum nennen. Aber wenigstens lungerte gerade niemand in der Halle herum. Der Schreck saß ihr immer noch in den Gliedern und sie hatte Muskelkater in den Armen nach dem ungewohnten Frühsport auf dem Friedhof, außerdem schmerzte es sie nach wie vor, dass Daniel einfach weggegangen war, sobald er unter der Statue hervorgekrochen war. Aber im Augenblick bemühte sie sich, das alles aus ihrem Kopf zu verdrängen, um gierig jedes Wort aufzusaugen, das ihre beste Freundin in der Viertelstunde, in der sie miteinander telefonieren durften, von sich gab. Luce freute sich so sehr, Callies aufgeregte, hohe Stimme zu hören, dass es ihr völlig egal war, worüber und weshalb sie schimpfte.
»Wir haben uns gegenseitig versprochen, dass keine Stunde vergehen würde, ohne dass wir miteinander telefonieren«, fuhr Callie fort. »Ich dachte schon, jemand hätte dich aufgefressen! Oder dass sie dich vielleicht in eine Zwangsjacke gesteckt hätten, wo du den Ärmel durchbeißen musstest, um dir weiter die Haare auszuraufen und das Gesicht zu zerkratzen! Nach allem, was du mir von dieser Besserungsanstalt erzählt
hast, hättest du schon in
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