Engelsnacht
und Roland kamen als Letzte herein. So spät, dass Randy schon abgezählt hatte, wer alles fehlte. So spät, dass alle Stühle schon besetzt waren und die beiden sich ganz vorne auf den Fußboden hocken mussten. Als Daniel den Lichtstrahl des Projektors kreuzte, bemerkte Luce zum ersten Mal die Silberkette um seinen Hals und das Medaillon - oder was es auch war - auf seinem T-Shirt. Dann verschwand er vollkommen aus ihrem Gesichtsfeld. Sie konnte nicht einmal sein Profil sehen.
Wie sich herausstellte, war ›Starman‹ nicht besonders witzig, was allerdings durch die ständigen Kommentare aus dem Publikum wettgemacht wurde. Luce fiel es immer schwerer, sich auf die Geschichte zu konzentrieren. Außerdem spürte
sie in ihrem Nacken wieder ein unangenehmes Kribbeln. Eines Eiseskälte stieg in ihr hoch. Etwas würde geschehen.
Als die Schatten diesmal kamen, erwartete Luce sie bereits. Dann fing sie an nachzudenken und zählte an den Fingern ab, wie oft sie in den letzten Tagen aufgetaucht waren. Die Rate war alarmierend hoch und Luce konnte sich keinen rechten Reim darauf machen. Entweder war sie hier in der Sword & Cross einfach nur nervöser als sonst … oder es bedeutete etwas anderes. So schlimm war es noch nie gewesen …
Die Schatten sickerten von oben auf die Zuschauer herab, strömten an der Leinwand herunter und verteilten sich schließlich entlang der Linien im Fußboden wie verschüttete Tinte. Luce umklammerte die Sitzfläche ihres Stuhls und spürte, wie eine Welle der Furcht ihr schmerzhaft durch Beine und Arme zog. Alle Muskeln in ihrem Körper verkrampften sich, sie fing an zu zittern. Eine Hand legte sich auf ihr linkes Knie, sie blickte zu Arriane.
»Alles in Ordnung?«, flüsterte Arriane.
Luce nickte und zog kurz die Schultern hoch, als wäre ihr bloß kalt. Sie wünschte sich, es wäre so. Aber diese ganz besondere Kälte hatte nichts mit der übereifrigen Klimaanlage in der Aula der Sword & Cross zu tun.
Sie konnte spüren, wie sich die Schatten unter ihrem Stuhl sammelten und ihre Füße umflossen. Dort blieben sie, bis der Film zu Ende war, und jede Minute dauerte eine Ewigkeit.
Eine Stunde später presste Arriane das Auge gegen den Türspion in Cams bronzefarbener Zimmertür. »Hoho-hoho!«, sang sie und kicherte. »Hier geht die Party ab!«
Aus ihrer Bügelhandtasche, aus der sie schon die Tüte Popcorn geholt hatte, zauberte sie eine rosa Federboa hervor. »Hilf mir mal hoch«, sagte sie zu Luce und hob einen Fuß in die Luft.
Luce verschränkte die Finger ineinander und hielt sie unter Arrianes Fuß. Arriane stieß sich vom Boden ab, benutzte die Federboa, um die Linse der Überwachungskamera zu verdecken, und griff mit der anderen Hand dahinter, um sie auszuschalten.
»Weil das ja überhaupt nicht verdächtig ist«, meinte Penn.
»Auf welcher Seite stehst du eigentlich?«, erwiderte Arriane. »Willst du mit zur Party oder ergreifst du Partei für die anderen?«
»Ich will nur darauf hinweisen, dass es vielleicht schlauere Mittel und Wege gibt«, schnaubte Penn. Arriane hüpfte herunter und schlang die Boa um Luces Hals. Luce lachte und fing zu dem Motown-Song zu tanzen an, der durch die Tür zu hören war. Aber als sie die Boa um Penn schlingen wollte, um sie auch einzubeziehen, merkte sie, dass Penn ängstlich und nervös war. Sie kaute auf den Fingernägeln herum und Schweißperlen standen ihr auf der Stirn. Penn trug sogar in der schwülen Septemberhitze sechs Sweater übereinander - ihr war sonst nie heiß. Luce beugte sich zu ihr.
»Was ist los?«, flüsterte sie.
Penn zupfte an ihrem Ärmel herum und zuckte nur mit den Schultern. Sie schien gerade zu einer Antwort ansetzen zu wollen, als hinter ihnen die Tür aufging. Zigarettenrauch, ohrenbetäubende Musik und Cams weit ausgebreitete Arme begrüßten sie.
»Du bist gekommen«, sagte er lächelnd zu Luce. Sogar im schwachen Flurlicht schimmerten seine Lippen wie rote
Früchte. Als er Luce umarmte, fühlte sie sich bei ihm wie ein kleines Mädchen geborgen und sicher. Doch das dauerte nur eine Sekunde. Dann wandte er sich um, um auch den anderen beiden hallo zu sagen. Mit leichtem Stolz registrierte Luce, dass er sie als Einzige umarmt hatte.
Das kleine, kaum beleuchtete Zimmer hinter Cam war mit Leuten vollgestopft. Roland stand in einer Ecke am Plattenspieler und hielt im Schwarzlicht Platten hoch. Das Pärchen, das Luce an ihrem ersten Tag vor dem Schulgebäude beobachtet hatte, lehnte knutschend am Fenster. Die
Weitere Kostenlose Bücher