Engelsnacht
irgendjemand irgendwann aufgeschüttet haben musste.
Ein Mal verlor Luce beinahe das Gleichgewicht und griff nach einem der Grabsteine, um sich festzuhalten. Es war ein breiter, glatt polierter, leicht rosafarbener Stein.
»Den hab ich schon immer besonders gerne gemocht«, sagte Cam, und Luce ging um das Grab herum, um die Inschrift zu lesen.
»Joseph Miley«, las sie laut vor. »1821 bis 1865. Tapferer Kämpfer im Krieg gegen die Nordstaaten. Er überlebte drei Kugeln, und fünf Pferde fielen unter ihm, bevor er seinen ewigen Frieden fand.«
Luce knackte nervös mit den Fingern. Vielleicht mochte Cam dieses Grab nur, weil sich der rosafarbene Stein von den anderen, die meistens grau waren, unterschied? Oder vielleicht, weil der Rand oben mit geschwungenen Ornamenten verziert war? Sie blickte ihn mit hochgezogener Augenbraue an.
»Ist eben so«, sagte er achselzuckend. »Mir gefällt es, dass auf dem Grabstein steht, wie er gestorben ist. Ich finde das ehrlich, verstehst du? Normalerweise wollen das die Leute nicht.«
Luce richtete ihren Blick in die Ferne. Sie wusste das nur allzugut von dem nichtssagenden Spruch auf Trevors Grabstein.
»Stell dir mal vor, wie viel spannender es wäre, wenn auf jedem Grabstein die Todesart eingemeißelt wäre.« Er zeigte auf ein schmales Grab ein paar Schritte entfernt. »Was glaubst du, woran sie gestorben ist?«
»Keine Ahnung, vielleicht Scharlach?«, riet Luce und ging zu dem Grab.
Sie fuhr mit dem Finger über die Jahreszahlen. Das Mädchen, das man dort begraben hatte, war jünger als Luce gewesen. Luce wollte lieber nicht zu sehr darüber nachgrübeln, was die Ursache für ihren frühen Tod gewesen war.
Cam hielt nachdenklich den Kopf schräg. »Möglich«, sagte er. »Vielleicht hatte sich die junge Betsy aber auch zu einem harmlosen Nachmittagsschläfchen mit dem Nachbarjungen ins Heu zurückgezogen, als in der Scheune ein rätselhaftes Feuer ausbrach?«
Luce wollte so tun, als fühlte sie sich durch diese Anspielung verletzt. Aber Cam blickte so erwartungsvoll, dass sie lachen musste. Es war schon lange her, dass sie mit einem Jungen herumgeblödelt hatte. Das hier war möglicherweise
etwas morbider als der typische Parkplatzflirt vor oder nach dem Kino, an den sie gewöhnt war, aber schließlich war sie jetzt auf der Sword & Cross. Da waren die Schüler eben so. Und Luce gehörte zu ihnen, ob sie nun wollte oder nicht.
Sie folgte Cam den Abhang hinunter in die Mitte des Friedhofs, wo die prächtigeren Grabmäler und Gruften lagen. Die Grabsteine weiter oben schienen auf sie herunterzublicken, als wären Luce und Cam Schauspieler auf einer Bühne. Die Mittagssonne schien zwischen den Blättern einer riesigen Eiche hindurch, und Luce hielt die Hand vor die Augen, weil das Licht sie blendete. Es war der heißeste Tag, den sie bisher gehabt hatten.
»Und dann der da«, sagte Cam und deutete auf ein riesiges Grabmal mit korinthischen Säulen. »Ein totaler Drückeberger, wollte nicht in den Krieg. Erlitt dann den Erstickungstod, als über ihm sein Haus einstürzte. Was uns lehrt, dass wir uns nie davonschleichen sollten, wenn zum Bürgerkrieg gerufen wird.«
»Ach wirklich?«, fragte Luce. »Und was macht dich eigentlich zum Experten in diesen Dingen?« Aber auch während sie ihn so neckte, fühlte sie sich merkwürdig geehrt, dass sie mit ihm hier sein durfte. Cam warf ihr immer wieder Blicke zu, ob sie auch immer noch lächelte.
»Ist so was wie der sechste Sinn.« Er grinste sie breit und unschuldig an. »Oder wenn du lieber magst, der siebte oder der achte oder der neunte Sinn, damit spüre ich das alles.«
»Beeindruckend.« Luce lächelte. »Ich spüre jetzt einen großen Hunger. Lass uns zum Geschmackssinn zurückkehren.«
»Immer zu Diensten.« Cam zog eine Decke aus seiner großen Tasche hervor und breitete sie im Schatten unter der Eiche aus. Er schraubte eine Thermoskanne auf und Luce
konnte den starken Espresso riechen. Sie trank ihren Kaffee normalerweise nicht schwarz. Cam füllte ein Glas mit zerstoßenem Eis, goss dann den Espresso darüber und danach etwas Milch, nicht zu viel und nicht zu wenig. »Zucker habe ich leider vergessen«, sagte er.
»Ich trinke meinen Kaffee nie mit Zucker«, antwortete Luce. Sie nahm einen Schluck von dem Eiskaffeelatte. Wie köstlich! Der erste Schluck Kaffee in dieser Woche. Kaffee war auf der Sword & Cross auch verboten.
»So ein Glück«, sagte Cam, der auf der Decke die restlichen Zutaten für ihr
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