Engelsnacht
Wettschwimmen immer gewonnen. Dafür haben die anderen schon gesorgt. War ein ungeschriebenes Gesetz. Ich dachte, das gilt immer noch.«
»Gabbe hat auch nicht gewonnen«, sagte Luce und zog das Handtuch fester um sich. »Sie ist auch neu hier. Sie ist noch nicht mal mitgeschwommen.«
»Gabbe ist nicht wirklich neu hier, sie war … woanders und ist wieder zurückgekommen«, sagte Daniel, ohne sich anmerken zu lassen, was er für Gabbe empfand. Sein Versuch, möglichst unbeteiligt zu wirken, machte Luce nur noch eifersüchtiger. Sie schaute ihm zu, wie er das Springseil aufwickelte, seine Hände bewegten sich dabei fast genauso flink wie vorher seine Füße. Und sie stand so unbeholfen und einsam und fröstelnd vor ihm und fühlte sich von allem ausgeschlossen. Ihre Lippen zitterten.
»Ach, Lucinda«, flüsterte er mit einem tiefen Seufzer.
Als sie ihn das sagen hörte, wurde ihr ganz warm. Seine Stimme klang so zärtlich und vertraut.
Sie hätte ihn gerne noch einmal ihren Namen sagen hören, aber er hatte sich bereits abgewandt und hängte das Springseil über einen Haken an der Wand. »Ich muss mich noch umziehen.«
Sie legte eine Hand auf seinen Arm. »Warte!«
Er riss sich los, als hätte ihn der Blitz getroffen - und Luce spürte ebenfalls etwas, aber es fühlte sich trotzdem gut an.
»Hast du schon mal das Gefühl gehabt, dass…« Sie blickte zu ihm hoch und schaute ihm in die Augen. Erst jetzt bemerkte sie, wie ungewöhnlich sie waren. Zuerst dachte man, sie seien grau, aber wenn man genau hinschaute, entdeckte man darin violette Einsprengsel. Sie kannte noch jemanden, der solche Augen hatte …
»Ich könnte schwören, dass wir uns schon einmal getroffen haben«, sagte sie. »Bin ich verrückt?«
»Verrückt, ja, bist du deswegen nicht hier?«, sagte er abwehrend.
»Ich meine das ernst.«
»Ich auch.« Daniels Gesicht war ausdruckslos. »Und nur zur Erinnerung«, er deutete auf die blinkende Kamera an der Decke, »die Rotlichter zeichnen alles auf. Auch Stalker.«
»Ich bin keine Stalkerin.« Luces Körper wurde steif und kalt, die Distanz zwischen ihnen beiden war nur allzu deutlich spürbar. »Willst du wirklich behaupten, dass du keine Ahnung hast, wovon ich rede?«
Daniel zuckte mit den Schultern.
»Ich glaub dir nicht«, beharrte Luce. »Schau mir in die Augen und sag mir, dass ich Unrecht habe. Dass ich dich noch nie in meinem Leben gesehen habe, bevor ich hierhergekommen bin.«
Ihr Herz klopfte zum Zerspringen, als Daniel auf sie zukam und die Hände auf ihre Schultern legte. Seine Daumen passten perfekt in die Vertiefung unter ihrem Schlüsselbein und sie hätte am liebsten die Augen geschlossen, als sie die Wärme seiner Berührung spürte - aber sie tat es nicht. Sie sah, wie Daniel den Kopf zu ihr herunterbeugte, bis seine Nase beinahe ihre berührte. Sie spürte seinen Atem in ihrem Gesicht. Sie konnte seine Haut riechen, ein herber, gleichzeitig leicht süßlicher Duft.
Er tat, worum sie ihn gebeten hatte. Er schaute ihr in die Augen und sagte langsam und deutlich, so dass kein Zweifel möglich war: »Du hast mich noch nie in deinem Leben gesehen, bevor du hierhergekommen bist.«
Sieben
Mehr Licht
»Wo willst du denn hin?«, fragte Cam und blickte sie über den Rand seiner Sonnenbrille mit den roten Gläsern an.
Er war so plötzlich vor dem Eingang von Augustine aufgetaucht, dass Luce fast in ihn hineingerauscht wäre. Oder vielleicht war er auch schon eine ganze Weile da gestanden und sie hatte ihn nur nicht bemerkt, weil sie es so eilig hatte, ins Klassenzimmer zu kommen. Was auch immer, jedenfalls fing ihr Herz heftig zu klopfen an.
»Ähm, wie wär’s mit Unterricht?«, antwortete sie. Wohin sollte sie sonst wohl unterwegs sein? Schließlich war sie mit zwei dicken Mathebüchern und einer halb fertigen Religionshausaufgabe beladen.
Jetzt wäre eine gute Gelegenheit gewesen, um sich dafür zu entschuldigen, dass sie am Abend vorher so schnell von der Party verschwunden war. Aber sie brachte es nicht über die Lippen. Außerdem war sie schon viel zu spät dran. In der Dusche des Umkleideraums hatte es kein heißes Wasser gegeben, deshalb musste sie noch einmal zurück ins Wohnheim. Und irgendwie war ihr auch nicht mehr so wichtig, was nach der Party passiert war. Warum sollte sie extra die Aufmerksamkeit darauf lenken, dass sie so früh gegangen war - erst jetzt recht, wo sie sich wegen Daniel sowieso schon erbärmlich genug fühlte. Sie wollte nicht, dass Cam sie
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