Engelsrache: Thriller
eingeschlossen, Julie. Und dann ist es vorbei mit dem großen Geld«, fügte sie hinzu.
»Außerdem ist ohnehin klar, dass keine von euch den Kerl umgebracht hat. Ihr könnt der Polizei doch sowieso nicht weiterhelfen. Der Mann war ein betrunkener Schwachkopf. Ihr habt alle gesehen, wie der sich danebenbenommen hat. Wahrscheinlich ist er hinterher noch woanders hingegangen und hat sich mit jemandem angelegt. Am besten, wir halten uns aus der Sache raus. Falls dieser Polizist eine von euch anspricht, sagt ihr einfach, dass der Mann nicht hier war. Der Bulle findet auch woanders Leute, die ihm weiterhelfen können.«
»Wo ist eigentlich Angel?«, fragte Julie. »Sie hat den Kerl gestern Abend doch bedient.«
»Angel ist zu Hause. Wir haben uns darauf geeinigt, dass die Arbeit hier im Club nichts für sie ist. Wegen Angel braucht ihr euch keine Gedanken machen. Die sagt kein Wort.« Wieder legte Erlene eine Kunstpause ein und sah die Mädchen der Reihe nach bedeutungsvoll an. »Habe ich mich deutlich ausgedrückt?«
Keines der Mädchen sagte ein Wort, alle nickten. Erlene wusste genau, dass die Mädchen nirgends so viel verdienen konnten wie im Mouse’s Tail. Außerdem behandelte sie das Personal anständig. Und dafür erwartete sie im Gegenzug eine gewisse Loyalität.
»Verstanden, Julie?«
Julie ließ ihren aufgeblasenen Kaugummi vor dem Mund platzen und zuckte mit den Achseln.
»Na gut, dann wollen wir uns mal in die Arbeit stürzen.«
12. April
18:00 Uhr
Im Anschluss an meinen Besuch im Pflegeheim fuhr ich nach Mountain City, um dort einen Mandanten zu vertreten. Der Mann hatte mit der Staatsanwaltschaft eine Absprache getroffen und sich bereit erklärt, sich der fahrlässigen Tötung schuldig zu bekennen, um ein Verfahren wegen Totschlags abzuwenden. Der Mandant hieß Lester Hancock und war dreißig Jahre alt. Er war eines Abends überraschend nach Hause gekommen und hatte seine Frau mit seinem besten Freund im Bett angetroffen. Seine erste Reaktion war geradezu vorbildlich gewesen. Er hatte lediglich zu seinem Kumpel gesagt, er solle gefälligst augenblicklich verschwinden und sich nie wieder blicken lassen. Der Freund war tatsächlich gegangen, eine Viertelstunde später aber wieder vor Lesters Haus aufgetaucht und hatte den gehörnten Ehemann von der Straße aus wüst beschimpft. Nun war Lester ebenfalls laut geworden. Sein Freund war daraufhin zu seinem Pick-up gegangen und hatte einen Baseballschläger geholt, den er hinten auf der Ladefläche verwahrte. Dann war er mit dem Knüppel auf das Haus losgestürmt. Lester erwartete ihn bereits auf der Veranda und schoss ihn mit einer Schrotflinte über den Haufen. Die Staatsanwaltschaft hätte vermutlich nicht einmal Klage gegen ihn erhoben, wenn Lester den Mann nicht in sein Haus geschleppt und den Tathergang gegenüber der Polizei später falsch dargestellt hätte.
Die Landschaft, durch die ich fuhr, war um diese Jahreszeit eine einzige Pracht. Die Berggipfel spiegelten sich im glitzernden Wasser des Watauga-Sees, und auf den Bergen erwachte gerade die Natur. An den Hängen standen die Hartriegelsträucher, die Judasbäume und die Azaleen in voller Blüte und bildeten rosa und weiße Farbtupfer. Als ich so durch die herrliche Landschaft fuhr, musste ich daran denken, was meine Mutter zu mir gesagt hatte. »Was hat Raymond dir denn getan?«, hatte sie gefragt.
Nachdem ich damals gesehen hatte, wie mein Onkel meine Schwester vergewaltigt hatte, war ich monatelang total verstört gewesen. Ich reagierte völlig übertrieben auf jede Art von Schikane – oder was ich dafür hielt. Im folgenden Jahr wurde ich sogar dreimal wegen Tätlichkeit der Schule verwiesen, dabei war ich erst in der dritten Klasse. Ich fühlte mich im Stich gelassen und litt unter schweren Albträumen.
Im Laufe der Zeit ließen die Albträume dann allmählich nach. Doch in der achten Klasse – also auf dem Höhepunkt der Pubertät – warf ich eines Tages mit meinem Helm nach einem Football-Coach, der mich im Training an meinem Gesichtsschutz festgehalten und mich wegen eines Fehlers angebrüllt hatte. Der Helm traf den Mann am Kopf. Ich flog daraufhin sofort aus der Mannschaft und wurde für einen Monat der Schule verwiesen.
Im ersten Jahr an der Highschool – die Hormone spielten verrückt, und ich fühlte mich total überfordert – tat ich oft tagelang kein Auge zu und litt unter schweren Depressionen. Soweit ich mich erinnere, habe ich damals zum ersten Mal geträumt, dass
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