Engelsrache: Thriller
du etwas sagst, bringe ich deinen Bruder um. Kapiert?‹
Und so hat keiner von uns beiden je mit einem anderen Menschen darüber gesprochen, nicht einmal wir zwei untereinander. Als der elende Dreckskerl ein Jahr später ertrunken ist, war ich überglücklich. Danach habe ich versucht, ihn zu vergessen, aber das ist mir bis heute nicht gelungen. Und Sarah offenbar ebenso wenig.«
Ich ließ mich auf dem Stuhl zurücksinken und stieß einen langen Seufzer aus. »So, jetzt weißt du es.«
Seit ich angefangen hatte zu sprechen, hatte sie die ganze Zeit reglos dagelegen. Sie lag einfach da, atmete kaum und starrte, mitunter blinzelnd, ins Leere.
»Ich kann einfach nicht begreifen, dass dir nicht aufgefallen ist, wie sehr sich seit jenem Tag alles verändert hatte. Ich kann nicht begreifen, dass du dir nie auch nur die Mühe gemacht hast, danach zu fragen, was passiert war. Vielleicht hätte ich dir dann davon erzählt, und vielleicht hättest du doch etwas tun können, um Sarah zu helfen. Aber du warst ja vor allem damit beschäftigt, dich selbst zu bedauern, richtig? Du hast dich dein ganzes Leben lang schlecht gefühlt, und jetzt ist es vorbei.«
Ich versuchte, ein Zeichen dafür zu entdecken, dass sie mich verstanden hatte. Nichts.
»Hast du verstanden, was ich gerade erzählt habe, Ma? Ein einziges Wort?«
Draußen klopfte es, und die Tür ging auf. Eine Schwesternhelferin trat in das Zimmer. »Alles in Ordnung?«, fragte sie etwas beunruhigt. »Ich dachte, ich hätte jemanden schreien hören.«
Es dauerte einige Sekunden, bevor ich begriff, was sie gesagt hatte. Plötzlich ging mir auf, wo ich mich befand. Es war, als ob ich gerade aus einem tiefen Schlaf erwacht wäre.
»Alles in Ordnung«, sagte ich. »Bitte machen Sie die Tür zu.«
Sie drehte sich um und ging wieder hinaus. Ich stand vom Stuhl auf und betrachtete meine Mutter.
»Ich glaube, ich gehe jetzt besser. Ich bin sehr froh über unser kleines Gespräch.«
12. April
16:00 Uhr
Verdammt noch mal. Noch nie hatte Erlene Barlowe ihren verstorbenen Mann Gus so vermisst. Gus wäre mit diesem TBI-Beamten sicher besser fertig geworden als sie. Nachdem sie den Polizisten draußen auf dem Parkplatz hatte stehen lassen, setzte sie sich in ihrem Club an die Bar und überlegte, was Gus an ihrer Stelle wohl tun würde. Sie war beunruhigt. So leicht ließ sich dieser TBI-Mann gewiss nicht abschütteln. Der Kerl würde zweifellos wieder aufkreuzen, und zwar bald.
Gus war erst sechsundzwanzig Jahre alt gewesen, als er in McNairy County zum Sheriff gewählt wurde. Das lag nun schon fast dreißig Jahre zurück. Erlene war damals noch ein halbes Kind gewesen, gerade mal zweiundzwanzig, und dazu noch völlig naiv. Ein Onkel von ihr hatte bei der Bezirksverwaltung gearbeitet und ihr in der Dienststelle des Sheriffs einen Job als Disponentin vermittelt. Zwischen Gus und ihr hatte es sofort gefunkt.
Aber Gus war schon verheiratet. Seine Frau Bashie hatte Gus und Erlene an einem Freitagabend in Gatlinburg in einem Motelzimmer in flagranti erwischt. Ein paar Monate später reichte Bashie die Scheidung ein, und Gus trat von seinem Amt als Sheriff zurück. Beigetragen zu dieser Entscheidung hatte gewiss auch das Gerücht, dass Gus bestechlich sei und in seinem Amtsbereich Glücksspiel und Drogenhandel duldete. Gegen entsprechendes Schmiergeld, versteht sich. Bis heute glaubte Erlene von alledem nicht ein Wort.
Gus hatte schon in seiner Zeit als Sheriff ein paar Leute kennengelernt, die ihm nach seinem Ausscheiden aus dem Amt dabei halfen, sich in Hamilton County in der Sexbranche zu etablieren. Als er Erlene gebeten hatte mitzukommen, war sie sofort Feuer und Flamme gewesen. Sie war total in ihn verknallt gewesen, richtig verliebt. Gus war groß und stark und attraktiv, ein richtiger Mann. Wie eine Prinzessin hatte er sie behandelt. Wegen einer verpfuschten Abtreibung, die Erlene hatte vornehmen lassen, blieb die Ehe der beiden kinderlos. Trotzdem hatten sie fast dreißig Jahre ein herrliches Leben gehabt und im Laufe der Zeit in vier verschiedenen Countys Sexclubs eröffnet. Mal hatten sie einen unprofitablen Club übernommen, mal selbst einen Strip-Schuppen billig hochgezogen. Für die Geschäftsführung und die Kundenbetreuung war Gus zuständig, Erlene hatte die Mädchen betreut. So hatten sie in gewissen Abständen immer wieder mal einen neuen Club zuerst profitabel gemacht, dann einige Jahre gutes Geld verdient und den Laden schließlich teuer verkauft. Auf
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