Engelsrache: Thriller
fragte ich ihn, wie er an das Geld gekommen war.
»Das ist von der Frau«, sagte er.
»Welcher Frau?«
»Von der Frau, die ich umgebracht habe. Ich habe noch mehr von der Kohle. Sie haben sich Ihren Anteil redlich verdient.«
Ich warf ihn mitsamt seinem Geld aus der Kanzlei. Ihn bei der Polizei anzuzeigen war sinnlos. Das Verbot der Doppelbestrafung schützte Billy vor einem neuen Verfahren, und das Schweigegebot verpflichtete mich dazu, sein schmutziges kleines Geheimnis für mich zu behalten.
Bevor ich an Billy geriet, tat ich, was alle Strafverteidiger tun – ich vermied es, mit meinen Mandanten darüber zu sprechen, was wirklich passiert war. Das heißt, ich befasste mich nur mit der Beweislage und mit verfahrensrechtlichen Fragen. Aber als Billy mir die Wahrheit direkt ins Gesicht sagte, wurde mir schlagartig klar, dass ich mich jahrelang selbst betrogen hatte. Ich begriff, dass meine berufliche Existenz, meine Reputation, mein gesamtes Selbstbild nichts als eine große Lüge war. Ich verhielt mich nicht besser als jede Hure. Die Wahrheit war mir völlig egal, mir ging es nur noch darum, zu gewinnen und möglichst viel Geld zu verdienen. Dabei war mein Ehrgefühl auf der Strecke geblieben.
Als mir das bewusst wurde, wollte ich zunächst alles hinwerfen. Aber meine Kinder waren inzwischen in der Highschool und wollten demnächst studieren. Caroline hatte unser Geld zwar gut verwaltet, trotzdem konnte ich nicht einfach aussteigen, dazu reichten unsere Rücklagen nicht. Also sprach ich mit Caroline, und wir beschlossen, dass ich vorerst weitermachen sollte. Zuerst mussten die Kinder die Highschool und das College abschließen, danach wollten wir noch einmal darüber nachdenken, was aus meinem restlichen Leben werden sollte.
Fortan nahm ich weitaus weniger Mandate an als früher. Wenn ich Angeklagte vertrat, die mit der Todesstrafe rechnen mussten, dann nur als Pflichtverteidiger. Solche Mandate wurden mir allerdings immer wieder von Richtern aufs Auge gedrückt, die sich bei mir dafür rächen wollten, dass ich Leuten wie Billy Dockery zu einem Freispruch verholfen und auch sonst immer wieder nach allen Regeln der Kunst getrickst hatte. Mein Sohn war auf dem College, und meine Tochter stand kurz vor dem Abschluss der Highschool. Die noch verbliebenen Fälle hoffte ich, in weniger als einem Jahr abzuarbeiten und mich dann endgültig von dem Beruf zu verabschieden, dessen Wahl ich – wenigstens indirekt – Onkel Raymond zu verdanken hatte.
Als ich später von Mountain City wieder nach Hause kam, war es schon fast dunkel. Bis zu diesem Zeitpunkt war mein Geburtstag ein einziger Fehlschlag gewesen. Zuerst war dieser Johnny Wayne geknebelt und gefesselt aus dem Gerichtssaal geschleppt worden, dann hatte ich in Gegenwart meiner Mutter mehr oder weniger vollständig die Fassung verloren und darüber hinaus den ganzen Tag über immer wieder an Sarahs unglückselige Vergewaltigung denken müssen. Hinzu kam, dass ich weder Caroline noch die Kinder per Handy erreichen konnte. Ich hatte es von unterwegs aus wohl zehnmal versucht.
Ich bog daheim in die Einfahrt ein und öffnete mit der Fernbedienung das Garagentor. Sonst kein Auto zu sehen. Dann kam Rio, mein junger Deutscher Schäferhund, aus der Garage geschossen und rannte wie jeden Tag ausgelassen um meinen Wagen herum. Ich war Rios absoluter Held, weil ich ihn im Alter von zwei Monaten aus dem Tierheim geholt hatte. Wenn ich nach Hause kam und aus dem Auto stieg, war er derart außer Rand und Band und so aufgeregt, dass er mir jedes Mal auf den Schuh pinkelte.
Wo mochten die anderen bloß stecken? Auch das Auto meines Sohns war nirgends zu sehen. Erst vergangene Woche, als ich mit ihm telefoniert hatte, hatte Jack mir hoch und heilig versprochen, an meinem Geburtstag mit uns zu Abend zu essen. Ich wollte schon den Rückwärtsgang einlegen und irgendwo hinfahren, um meinen Kummer in einer Bar zu ertränken, doch dann beschloss ich, zuerst ins Haus zu gehen und nachzuschauen, ob die anderen mir vielleicht eine Nachricht hinterlassen hatten. Undenkbar, dass sie meinen Geburtstag einfach vergessen hatten. Schließlich bedeuteten mir die drei mehr als irgendjemand sonst auf der Welt. Meinen Geburtstag hatten sie bislang noch nie vergessen. Ganz im Gegenteil: Sie hatten stets ein Mordstheater darum gemacht.
Caroline hatte morgens nichts gesagt, aber ich war auch schon um halb sechs aus dem Haus gegangen und hatte nach dem Sport im Fitnessstudio geduscht. Caroline
Weitere Kostenlose Bücher