Engelsrache: Thriller
hatte, verdrängte ich schließlich auch diese Erinnerungen. Ich legte sogar in meinen beiden Hauptfächern – Politik und Jura – ein glänzendes Examen ab, obwohl ich nebenher stets arbeiten musste und mich nach Kräften bemühte, ein guter Ehemann und Vater zu sein. Das heißt, ich war so beschäftigt, dass mir so gut wie keine Zeit blieb, über die Vergangenheit nachzudenken. Eigentlich kann ich in den sieben Jahren damals kaum geschlafen haben.
Als ich mit dem Jurastudium fertig war, kam mein Sohn Jack gerade in den Kindergarten. Ich bewarb mich bei der Staatsanwaltschaft von Washington County um einen Job und war tief enttäuscht, als ich erfuhr, dass ich dort als Anfänger gerade mal zwanzigtausend Dollar im Jahr verdienen konnte. Ein Jahreseinkommen von fünfzigtausend Dollar konnte man dort frühestens nach zehn Jahren erreichen. So viel Arbeit und Mühe für ein derart jämmerliches Gehalt. Caroline gründete zu dieser Zeit gerade eine eigene Tanzschule. Wir waren uns darüber im Klaren, dass mit dieser Tätigkeit nicht viel Geld zu verdienen war. Als selbstständiger Anwalt konnte ich im Jahr – sogar als Anfänger – mindest doppelt so viel erwirtschaften wie bei der Staatsanwaltschaft. Also eröffnete ich eine Kanzlei in Johnson City. Zugleich nahm ich mir fest vor, die Kanzlei bald wieder zu schließen und als Staatsanwalt zu arbeiten. Doch vorher wollte ich erst einmal gutes Geld verdienen und Berufserfahrung sammeln.
Ich übernahm von Anfang an vor allem Strafrechtsfälle. Dabei ließ ich mich nicht zuletzt von dem Gedanken leiten, dass ich als Strafverteidiger Erfahrungen sammeln konnte, die mir später auch bei der Staatsanwaltschaft zugutekommen würden. In meinem neuen Beruf legte ich dasselbe Engagement an den Tag wie zuvor als Sportler, Soldat und Student. Schon bald war ich ein gewiefter Anwalt. Einem klugen Kopf bieten sich bei der Auslegung der Gesetze viele Freiräume, das hatte ich bald heraus. So lernte ich rasch, selbst drückende Beweise so zu deuten, wie es meinen Zwecken dienlich war. Auf diese Weise gewann ich einige wichtige Prozesse vor Geschworenengerichten. Meine Erfolge sprachen sich herum, und schon bald war ich der meistbeschäftigte Strafverteidiger weit und breit. Auch unsere finanziellen Verhältnisse verbesserten sich zusehends.
Ich verteidigte Mörder, Diebe, Drogendealer, Prostituierte, Wirtschaftskriminelle, gewalttätige Ehemänner und Promillesünder. Nur die Verteidigung von Sexualverbrechern lehnte ich kategorisch ab. Ich versuchte mich selbst davon zu überzeugen, dass ich eine Art edler Ritter sei, ein Strafverteidiger, der den Angeklagten gegen einen übermächtigen Staat zu ihrem Recht verhalf. Im Laufe der Zeit machte ich überdies eine unschöne Entdeckung. Ich stellte fest, dass viele der Polizeibeamten und Staatsanwälte, die auf der anderen Seite standen, sich kaum von den Kriminellen unterschieden, die ich verteidigte. Die Wahrheit war diesen Leuten völlig egal – sie wollten nur eines: um jeden Preis gewinnen.
Dennoch vergaß ich nie, dass ich eigentlich für die Staatsanwaltschaft arbeiten wollte. Aber die schlechte Bezahlung hielt mich immer wieder davon ab, mich dort zu bewerben. Ich wollte vor allem eines: gut für meine Frau und für meine Kinder sorgen. Besonders stolz war ich darauf, dass ich meinen Kindern etwas geben und Chancen bieten konnte, die ich selbst nie gehabt hatte. Ehe ich mich versah, waren zehn Jahre vergangen.
Und dann kam Billy Dockery daher.
Billy war ein Muttersöhnchen, dreißig Jahre alt und des Mordes an einer älteren Frau angeklagt, in deren Haus er mitten in der Nacht eingebrochen war. Er hatte lange Haare und war hager, dumm und arrogant, und ich konnte ihn vom ersten Augenblick an nicht leiden. Aber er schwor, dass er unschuldig war. Die Staatsanwaltschaft hatte kaum Beweise gegen ihn in der Hand. Hinzu kam, dass seine Mutter bereit war, ein hohes Honorar zu zahlen. Also übernahm ich den Fall. Ein Jahr später stellte ein Geschworenengericht nach drei Verhandlungstagen seine Unschuld fest. Am nächsten Tag erschien Billy nachmittags betrunken in meiner Kanzlei und warf mir ein Kuvert auf den Schreibtisch. Als ich mich nach dem Inhalt des Kuverts erkundigte, redete er etwas von einer Bonuszahlung über fünftausend Dollar. Ich entgegnete ihm, seine Mutter habe das Honorar schon beglichen. Doch er wollte unbedingt, dass ich das Geld behielt, und war völlig überdreht. Da ich wusste, dass er keine Arbeit hatte,
Weitere Kostenlose Bücher