Engelsrache: Thriller
unten ab. Sein Pyjama war vorn völlig durchnässt, und er stank nach Urin. Zu meiner Erleichterung hatte sich meine Überrumpelungstaktik glänzend bewährt. So einfach hatte ich mir das alles gar nicht vorgestellt. Außerdem war Tester unbewaffnet. Ich stand auf, schnappte mir meinen Gehstock und hockte mich wieder auf den bewusstlosen Mann.
Als er eine Minute später aufwachte, saß ich rittlings auf ihm. Meine Knie ruhten auf seinen Schultern, und ich drückte ihm den Gehstock gegen die Kehle. Wieder sah er mich mit denselben hasserfüllten Augen an wie einige Tage zuvor im Gerichtssaal.
»Wehe dir, du kommst mir, meiner Frau oder meinen Kindern noch ein einziges Mal zu nahe! Hast du mich verstanden?«
Er atmete schwer, und seine blauen Augen schienen fast aus den Höhlen zu treten. Ich musste an einen Vulkan denken, der jeden Augenblick explodieren konnte.
»Sie haben mir meinen Daddy weggenommen!«, kreischte er.
Was für eine absurde Behauptung.
»Quatsch«, sagte ich. »Ich habe deinem Daddy überhaupt nichts getan.«
»Aber Sie haben vor allen Leuten gesagt, dass er an diesem schrecklichen Ort gewesen ist! Sie haben gesagt, dass er ein großer Sünder war! Habe ich doch selbst im Gerichtssaal gehört.«
»Ich habe nur die Wahrheit gesagt. Dein Vater hat das Geld, das er während eines Gottesdiensts eingesammelt hat, in einem Striptease-Club auf den Kopf gehauen.«
»Lügner! Gotteslästerer!« Er versuchte aufzustehen, aber ich erhöhte mit dem Gehstock den Druck auf seine Kehle, bis er keine Luft mehr bekam. Wieder wurde er ganz starr, und ich begriff plötzlich, was mit ihm los war. Der Ausdruck auf seinem Gesicht, seine absurde Behauptung, seine gequälte Stimme, das alles zeugte davon, dass ich ein machtvolles Bild zertrümmert hatte: das Idealbild, das sich dieser Sohn von seinem Vater zurechtgezimmert hatte. Auch Diane hatte gesagt: »Er hat seinen Vater angebetet.« Durch die Bloßstellung seines ermordeten Vaters im Gerichtssaal hatte ich ihn zutiefst verletzt, und er wurde mit diesem Schmerz einfach nicht fertig.
Ich drückte ihm den Stock weiterhin kräftig gegen die Kehle und sah ihn dann aus nächster Nähe an.
»Dein Daddy war nicht der Mann, für den du ihn gehalten hast«, sagte ich. »Das ist nicht mein Fehler. Ich habe ihn dir nicht weggenommen – das hat er selbst besorgt. Und vergiss nicht, was ich gesagt habe. Wenn du mir noch mal zu nahe kommst, dann ergeht es dir wie deinem Daddy. Ich erschieße dich auf der Stelle.« Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, und er durchbohrte mich mit seinem Blick. »Und wandle ich im Tal des Todesschattens«, sagte er, »ich fürchte keinerlei Gefahr …«
»Halt deine verdammte Fresse!« Diese Worte brachen mit solcher Macht aus mir hervor, dass ich ihn anspuckte. Ich fasste ihn mit der linken Hand am Kinn, drehte seinen Kopf auf die Seite und drückte ihm den Stock gegen die Halsschlagader. Wenige Sekunden später war er wieder bewusstlos. Ich dachte kurz daran, ihm den Kopf mit dem Stock zu zertrümmern. Wenn du ihn umbringst, kann er dir wenigstens nicht mehr gefährlich werden. Aber ich konnte es einfach nicht. Dann stand ich auf, drehte mich um und rannte los.
Eine halbe Stunde später fuhr ich wieder durch die Dunkelheit, und meine Wut und Aggressivität ließen allmählich nach. Trotzdem malte ich mir immer wieder aus, wie ich Juniors Kopf mit dem Stock zertrümmerte, eine Vorstellung, die mir ein flüchtiges Gefühl der Befriedigung verschaffte. Ich musste an den Uringeruch denken und spürte wieder seinen hechelnden Atem auf meinem Gesicht. Dann fing ich an zu zittern und wurde kurz darauf so heftig geschüttelt, dass ich anhalten musste.
Was, zum Teufel, hatte ich da angestellt? Ich hatte mitten in der Nacht das Grundstück eines Fremden betreten, hatte ihn angegriffen, und sogar daran gedacht, ihn umzubringen.
Aber er hat doch zuerst versucht, dich umzubringen.
Das spielt keine Rolle, das weißt du doch ganz genau. Was du getan hast, ist Selbstjustiz. Wie viele der Leute, die du verteidigt hast, haben etwas Dummes getan oder sich zur Gewalt hinreißen lassen, weil sie sich im Recht fühlten? Du machst dir doch selbst was vor.
Ich musste daran denken, wie Tester mich angesehen hatte, während ich rittlings auf ihm hockte. Meine Absicht war es gewesen, ihm so viel Angst einzujagen, dass er mich und meine Familie künftig in Ruhe ließ, aber dieser Blick – dieser wütende, qualvolle, irre Blick – hatte mir
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