Engelsrache: Thriller
Kerbholz. Drei Vorstrafen wegen Drogenbesitz, zwei wegen Diebstahl, drei wegen Prostitution – die meisten davon in Dallas und Fort Worth. Niemand hatte etwas Positives über sie zu vermelden. Das Mädchen ist eine ziemliche Katastrophe.«
»Haben Sie mit ihr gesprochen?«
»Habe ich versucht. Das erste Mal, als ich bei ihr zu Hause war, hatte sie sich derart zugedröhnt, dass sie kaum sprechen konnte. Beim zweiten Mal hat sie gesagt, ich soll mich verpissen, und das habe ich dann auch getan.«
Eine Stunde später traf ich den psychiatrischen Sachverständigen, den ich darum ersucht hatte, sich einen Eindruck von Angel zu verschaffen. Tom Short war Leiter der Psychiatrie an der East Tennessee State University. Der eher etwas zu kurz geratene, drahtige Wissenschaftler verbrachte, wie es schien, viel Zeit in einer Welt, die außer ihm kaum jemand verstand. Erstmals über den Weg gelaufen waren wir uns vor fünf Jahren bei einer Tagung in Nashville, wo er einen Vortrag über die psychologischen Aspekte der Strafmilderung gehalten hatte. Seither hatte ich ihn in sieben Fällen als Sachverständigen herangezogen, und wir waren Freunde geworden. Bevor ich Tom kennengelernt hatte, war ich durchaus Psychiatrie-skeptisch gewesen, seine beinahe unheimliche Fähigkeit, Persönlichkeitsstörungen und psychotische Erkrankungen zu diagnostizieren, hatte mich jedoch eines Besseren belehrt. Tom genoss deshalb mein volles Ver-trauen.
»Posttraumatische Belastungsstörung, kurz PTBS«, sagte er, als ich in sein Büro trat. Er saß hinter dem Schreibtisch und saugte hingebungsvoll an seiner Pfeife, die er zwar ständig im Mund hatte, jedoch nie anzündete.
»Also PTBS«, sagte ich.
»Ja, das Mädchen ist schwer gestört. Über die Ursachen wollte sie nicht sprechen. Aber ich vermute mal, dass ihr Adoptivvater sie vergewaltigt hat.«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Weil sie sich über die Ursachen ihres Problems gewiss nicht so ängstlich ausschweigen würde, wenn sie einen Auto-unfall gehabt oder sonst etwas Schreckliches gesehen hätte. Als ich sie nach ihrem Vater gefragt habe, ist sie plötzlich ganz nervös geworden und wollte nicht mit der Sprache herausrücken.«
»Traust du ihr einen Mord zu?«
»Unter bestimmten Bedingungen kann jeder zum Mörder werden. Aber ich bin doch kein Hellseher.«
»Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie Tester umgebracht hat. Der Mann hat hundertzwanzig Kilo auf die Waage gebracht. Und Angel? Nicht mal die Hälfte? Wie hätte sie denn einen solchen Koloss überwältigen sollen?«
»Der Mann war schwer betrunken. Außerdem hat ihm jemand K.-o.-Tropfen eingeflößt. Den hätte selbst ein zehnjähriges Kind töten können.«
»Stimmt auch wieder. Aber auf mich macht sie einfach nicht den Eindruck, als ob sie jemanden umbringen könnte«, sagte ich.
»Ich betrachte sie mit den Augen des Klinikers«, erwiderte Short, »während du dich in deinem Urteil von Gefühlen leiten lässt. Dein Blick ist durch ihre Schönheit und Verletzlichkeit getrübt.«
»Dann glaubst du also, dass sie ihn wirklich umgebracht hat?«
»Das habe ich nicht gesagt, ich sage nur, dass es denkbar wäre. Manche PTBS-Patienten geraten in einen dissoziativen Zustand, wenn der Stress sie überwältigt. Sagen wir, ihr Adoptivvater hat sie jahrelang missbraucht, was ich annehme. Also läuft sie weg. Und dann passiert ihr dasselbe mit Tester. Möglich, dass sie völlig außer sich war und ihn umgebracht hat, ohne richtig zu wissen, was sie eigentlich tut. Das würde auch die hohe Zahl der Stichwunden und die Verstümmelung erklären.«
»Und – könnte sie sich unter solchen Bedingungen noch an die Tat erinnern?«
»Wahrscheinlich würde ihr die damalige Situation heute wie ein schlechter Traum vorkommen, aber ganz vergessen hätte sie die Tat sicher nicht.«
»Könnte man sie, rein juristisch betrachtet, für ihr Verhalten haftbar machen, falls es tatsächlich so gelaufen ist?«
»Vermutlich nicht. Ich könnte vor Gericht aussagen, dass man sie unter solchen Umständen für ihr Verhalten nicht zur Verantwortung ziehen darf. Wenn es so gewesen ist, hat es ihr nämlich ganz sicher an dem nötigen Unrechtsbewusstsein gefehlt.«
»Das Problem ist nur, wir können vor Gericht natürlich nur so argumentieren, wenn sie vorher ein entsprechendes Geständnis ablegt.«
»Das ist richtig.«
»Sie sagt aber, dass sie ihn nicht umgebracht hat.«
»Ja, ich weiß.«
»Was sollen wir also tun?«
»Mir
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