Engelsschmerz
ich, denn dass Aiden Gabriel den Hals gerettet hat, wusste ich nicht. Ich schätze, es gibt Vieles, was ich von ihm noch nicht weiß, aber wir haben Zeit.
„Das tun sie auch.“ Gabriel zieht genießerisch den Kaffeeduft ein, was mich breit grinsen lässt. Er sieht es. „Hey, ich liebe Kaffee.“
„Ich weiß … Also? Was war mit dir und Aiden?“
„Ich war ein Kind. Ernsthaft. Nach Menschenjahren etwa sechs, glaube ich. Wir zählen hier nicht in Jahren, ich kann es dir nicht genauer sagen. Jedenfalls hatte ich den Älteren zugesehen, wie sie zur Erde fliegen und wollte das auch. Nur war ich dafür noch viel zu jung und hatte nicht genug Kraft. Was mich nicht davon abhielt, es zu versuchen. Lange Rede, kurzer Sinn … ich bin abgestürzt und habe mir beide Flügel, einen Arm und ein Bein gleich mehrfach gebrochen.“
„Engel können verletzt werden? Augenblick mal, ich dachte, die Flügel muss man sich verdienen.“
„Du ja, aber ich bin ein Geborener. Wir werden mit unseren Flügeln geboren und sind wie die Kinder auf der Erde, leicht zu verletzen und zerbrechlich. Ich dachte damals, ich müsste auf der Erde sterben, während ich auf den Dachresten einer Hütte lag, auf die ich gefallen war. Heute steht dort die San Francisco Opera.“
Die Geschichte wird immer besser. Ich sehe Gabriel erstaunt an. „Du bist mitten in San Francisco auf ein Dach gekracht?“
Er schüttelt lachend den Kopf. „Damals gab es San Francisco noch gar nicht. Ich lag dort eine Nacht, dann fand mich Aiden und brachte mich zurück. Er hat kein Wort zu mir gesagt, den gesamten Rückflug über nicht. Aber er hat mir durch das Haar gestrichen, als ich anfing zu weinen. Die ganze Zeit hat er mich gestreichelt und berührt, um mich zu beruhigen. Das habe ich niemals vergessen.“
„Deswegen fiel es dir so leicht, dich auf die Sache mit uns einzulassen.“ Gabriel nickt, als ich ihn ansehe, und danach zwinkert er mir zu, was meine nächste Frage beantwortet, bevor ich sie stellen kann. Ich verbeiße mir den Fluch, der auf meinen Lippen liegt. „Du bist wirklich unmöglich.“
„Was?“ Er breitet gespielt unschuldig die Arme aus. „Die Gelegenheit war günstig, ich musste sie nutzen. So wie er dir immer nachgesehen hat, war mir klar, dass er dich mag, und ich fand dich auch ansehnlich, also dachte ich, ich versuche mein Glück. Und es hat funktioniert.“
„Es hat mir ein Jahrhundert Strafdienst eingebracht“, erinnere ich ihn und ernte ein Schulterzucken.
„Du hättest das Buch nicht benutzen müssen“, hält er mir vor und lacht, als ich beleidigt einen Schluck Kaffee trinke.
Dabei sagt er die Wahrheit. Es war nun mal meine Entscheidung, das Buch einzusetzen, um Matthew zu sehen und ihn damit am Ende für immer zu verlieren. Und es war zudem meine Wahl, eine Beziehung zu dritt anzufangen, wo immer die uns hinführen wird. Denn auch wenn Michael der Meinung ist, diese Bindung wäre Schicksal, ohne die Zustimmung von uns allen geht es nicht, das beweist Aiden jeden Tag aufs Neue.
„Also warten wir jetzt, bis Aiden so weit ist?“
„Was willst du sonst tun? Ihn zwingen?“
„Du könntest ihn austricksen. Das machst du doch dauernd“, schlage ich vor und Gabriel schmunzelt.
„Ich gebe zu, dass ich darüber nachgedacht habe, aber ich werde es nicht tun. Aiden soll sich uns freiwillig anschließen oder gar nicht. Ich bin vielleicht ein Arsch, aber Aiden und du, ihr bedeutet mir zu viel, um unsere Bindung auf einem Trick oder einer Lüge aufzubauen.“
„Ein Todesengel mit richtigen Gefühlen? Das ist ja ganz was Neues.“
Ich sehe überrascht zur Tür, in der Aiden steht. Wie lange hat er uns schon zugehört?
Gabriel seufzt neben mir und drückt mir seine Tasse in die Hand, bevor er zu Aiden hinübergeht und ihn am Kragen seines Hemds packt. „Ja, Aiden, auch wir haben Gefühle. Tu' nicht so, als wüsstest du das nicht. Ich steige dir schließlich nach, seit ich ein Kind war.“
„Ich habe dich gerettet. Reine Dankbarkeit, mehr nicht.“
„Du denkst, ich wäre ...“ Gabriel starrt Aiden für ein paar Sekunden erstaunt an, dann lacht er los und lässt von Aidens Hemd ab, um sich mit den Händen übers Gesicht zu fahren, bevor er den letzten Abstand zu Aiden überbrückt und ihm einen Kuss auf die Wange verpasst. „Das war Dankbarkeit, Aiden. Aber das hier ...“
Aidens hellblaue Augen weiten sich begreifend und er will zurücktreten, doch Gabriel ist schneller. Mit beiden Händen greift er zu, zieht Aiden
Weitere Kostenlose Bücher