Engelsstern
Umgebung an.
»Das ist auf dieser Welt mein Lieblingsort«, sagte Garreth lächelnd.
Die dichten Bäume verschluckten die Geräusche von uns Eindringlingen und verbargen unsere Anwesenheit unter einer Decke aus Kiefern und feuchter Erde. Die Sonne bahnte sich einen Weg durch ineinander verwachsenes Eichenlaub und Schierling. Ihr Licht wand sich zwischen den schweren Ästen hindurch.
Garreth führte mich weiter. Er nahm meinen Arm, vorsichtig suchten wir uns einen Weg durch ein Labyrinth aus Gebüsch und Zweigen, stiegen über knorrige Wurzeln, die sich aus der Erde wanden und den weichen Mulchteppich bis zum Äußersten dehnten.
Als sich meine Augen an die grüne Höhle gewöhnt hatten, blickte ich mich genauer um. Was ich sah, war atemberaubend und fremdartig.
»W o gehen wir hin?«, fragte ich ein wenig zögernd.
»Du wirst schon sehen. Wir sind fast da.«
Hin und wieder knackte im Dickicht ein Zweig. Ich bekam jedes Mal einen Schreck, aber Garreth ließ meine Hand nicht los.
Als ob der Wald nicht schon beeindruckend genug war, stand auf einmal eine wunderschöne kleine Kapelle aus Stein vor uns. Das quadratische Gebäude sah aus wie ein Mini-1-Zimmer-Schloss. An drei Seiten war jeweils ein gotisches Glasfenster eingelassen, in der vierten Wand hing eine oben abgerundete, schwere alte Holztür. Grob in den grauen Stein über der Tür eingemeißelt stand: Saint Ann.
»Kommst du?« Garreths Stimme schreckte mich auf. Er wartete oben auf der Treppe am Eingang, die Hand auf den abgewetzten, matt glänzenden Türknauf gelegt.
»Ist das denn sicher?«, fragte ich zaudernd. Meine Stimme klang fremd, hier in der ungestörten Stille des Waldes. »Ich meine, besteht Einsturzgefahr oder so?«
»Heutzutage wird so nicht mehr gebaut. Sie sieht vielleicht nicht so aus, aber sie ist absolut solide.«
Er streckte die Hand aus, um mir die Stufen hochzuhelfen. Seine blauen Augen leuchteten, als wäre er der Erbauer der kleinen Kapelle und würde jetzt darauf brennen, mir das Wunder hinter der Tür präsentieren zu können. Mir blieb nichts anderes übrig, als diesen Augen zuvertrauen. Vorsichtig kletterte ich hinauf. Die dicke Tür öffnete sich, das alte Holz hing nur noch lose an den verwitterten Scharnieren. Sie schrammte über den Boden, und wir traten ein.
Ich ging durch den kleinen Raum und sah mir alles an: den in den Ecken wuchernden wilden Farn, die zerschmolzenen Kerzenstummel, die massiven, rostzerfressenen Eisenkronleuchter. Wunderschöne Splitter von bemaltem Glas aus längst vergangenen Fenstern knirschten unter meinen Füßen. Trotz des desolaten Zustands war es immer noch atemberaubend.
»W ie findest du’s?«, fragte Garreth hinter mir mit weicher Stimme.
Ich drehte mich zu ihm um und bemerkte, wie hell es hier war, verglichen mit dem schummrigen grünen Wald draußen. Ein Blick nach oben zeigte, dass das Dach fehlte, sodass ein heller, goldener Lichtstrahl die winzige Kapelle durchfluten konnte.
»Ich finde es großartig.«
»Früher stand hier mal ein Turm, aber der wurde zerstört …« Garreths Stimme wurde leiser.
Als ich den Blick wieder senkte und darauf wartete, dass er weitersprach, zog sich mein Herz zusammen. Nicht weil der schönste Junge der Welt hier vor mir stand, sondern weil der Lichtstrahl direkt in mein Herz und meine Sinne eindrang – und mir etwas zeigte, das meine Augen bis jetzt nicht hatten sehen können .
KAPITEL 8
Vielleicht war es eine optische Täuschung, oder vielleicht manifestierte sich hier etwas, das ich in meinem Unterbewusstsein unterdrückt und verdrängt hatte. Ich hätte tausend verschiedene Erklärungen finden können, aber hier stand die Wirklichkeit leibhaftig vor mir.
Da stand Garreth, eingerahmt von einem Paar herrlicher schneeweißer Flügel. Sie führten in einem Bogen von seinen Schultern aus nach oben und bestanden aus weichen, weißen Federn. Fast meinte ich, sie wie Samt in meinen Fingern zu spüren. Die Flügel führten an seinen starken Armen vorbei nach unten zu den Glassplittern auf dem Boden. Er war unbeschreiblich schön, aber gleichzeitig von einer Aura der Unverwundbarkeit umgeben, von der Kraft der Unsterblichkeit, die mich in Ehrfurcht versetzte.
»Du bist ein …« Das Wort blieb mir im Hals stecken.
»Ja.«
Ich stand mit offenem Mund da. Das hier war zwar völlig unglaublich, aber ich glaubte es. Ich sah zu ihm auf, auf einmal ergab alles einen Sinn. Wie oft wäre es schonaus mit mir gewesen, wenn ich nicht unter dem
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