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Engelsstimme

Engelsstimme

Titel: Engelsstimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
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Ansonsten sehe ich da keinen Zusammenhang.«
    Gabríel stand auf, setzte sich die Schirmmütze auf, knöpfte den Mantel zu und band sich den Schal um den Hals. Währenddessen schwiegen sie beide. Erlendur öffnete ihm die Tür und begleitete ihn auf den Gang hinaus.
    »Danke, dass du gekommen bist und mit mir gesprochen hast«, sagte er und streckte seine Hand aus.
    »Keine Ursache«, erwiderte Gabríel. »Das war das Mindeste, was ich tun konnte.«
    Er zögerte, als wollte er noch etwas sagen, aber wusste nicht, wie.
    »Er war voller Unschuld«, sagte er schließlich. »Ein Junge, der nie Streiche machte oder Widerworte gab. Man hatte ihm eingeredet, er sei eine besonderer und einmaliger Junge und dass er berühmt werden und die Welt erobern würde. Die Wiener Sängerknaben. Hierzulande werden die Dinge so aufgebauscht, heute vielleicht noch schlimmer als früher, das ist typisch für diese Nation, die sonst nichts vorzuweisen hat. In der Schule machten sie sich über ihn lustig, weil er anders war, und er musste deswegen einiges einstecken. Und dann stellte sich am Ende heraus, dass er ein ganz normaler Junge war, dessen gesamte Welt an einem einzigen Abend zusammenstürzte. Es hätte unglaublicher Charakterstärke bedurft, um das heil durchzustehen.«
    Sie verabschiedeten sich, Gabríel drehte sich um und ging den Gang entlang in Richtung Aufzug. Erlendur blickte ihm nach, und es kam ihm fast so vor, als hätte das Schicksal von Guðlaugur Egilsson den ehemaligen Chorleiter seiner gesamten Kraft beraubt.
     
    Erlendur schloss die Tür. Er setzte sich auf die Bettkante und dachte über den Chorknaben nach, wie er ihn als Weihnachtsmann mit runtergelassenen Hosen vorgefunden hatte. Er grübelte, wie das Schicksal diesen Jungen in dieses Kabuff im Keller geführt und ihm so viele Jahre nach der bittersten Enttäuschung seines Lebens den Tod gebracht hatte. Er dachte an Guðlaugurs Vater mit der dicken Hornbrille, der an den Rollstuhl gefesselt war, und an seine Schwester mit dem stechenden Blick und der Aversion gegen den Bruder. Er dachte an den feisten Hotelmanager, der ihn entlassen hatte, und an den Empfangschef, der vorgab, ihn nicht gekannt zu haben. Er dachte an das Hotelpersonal, das keine Ahnung hatte, wer Guðlaugur Egilsson war. An Henry Wapshott, der von weither gekommen war, weil der junge Guðlaugur mit seiner zarten und schönen Stimme immer noch existierte und es auch weiterhin tun würde.
    Unwillkürlich gingen seine Gedanken wieder zurück zu seinem Bruder.
    Erlendur legte wieder dieselbe Platte auf, streckte sich auf dem Bett aus und ließ sich erneut in die Vergangenheit zurückversetzen, nach Hause. Dachte an seinen Bruder.
    Vielleicht war es auch sein Gesang.

Fünfzehn
    Elínborg kam gegen Abend wieder aus Hafnarfjörður zurück und fuhr direkt ins Hotel, um sich mit Erlendur zu treffen.
    Sie nahm den Aufzug hoch zu seiner Etage und klopfte an die Tür, zweimal, und als keine Reaktion erfolgte, klopfte sie ein drittes Mal. Sie wollte gerade wieder kehrtmachen, als sich die Tür endlich öffnete und Erlendur sie hereinließ. Er war über seinen Gedanken eingenickt und war immer noch völlig abwesend, als Elínborg anfing zu berichten, was sie in Hafnarfjörður herausgefunden hatte. Sie hatte mit dem ehemaligen Rektor der Volksschule in Hafnarfjörður gesprochen, der steinalt war, sich aber noch gut an Guðlaugur erinnern konnte. Hinzu kam, dass seine Frau, die vor rund zehn Jahren gestorben war, mit der Mutter des Jungen befreundet gewesen war. Mithilfe des Rektors hatte sie drei ehemalige Schulkameraden von Guðlaugur ausfindig gemacht, die immer noch in Hafnarfjörður wohnten. Eine von ihnen war bei dem Konzert im Stadtkino dabei gewesen. Elínborg hatte auch mit alten Nachbarn der Familie gesprochen und mit Leuten, die früher mit der Familie zu tun gehabt hatten.
    »Hier in diesem Zwergstaat darf sich niemand hervortun«, sagte Elínborg und setzte sich auf das Bett. »Niemand darf anders sein.«
    Alle wussten, dass aus Guðlaugur etwas Besonderes werden sollte. Er sprach zwar selber nie darüber, er sprach eigentlich niemals über sich selbst, aber alle wussten es. Er musste Klavierunterricht nehmen, erst bei seinem Vater und dann beim Leiter des Kinderchors, dessen Stelle um diese Zeit eingerichtet wurde, und dann bei einem bekannten Sänger, der in Deutschland gelebt und gearbeitet hatte, aber jetzt nach Island zurückgekehrt war. Die Leute überschütteten den Jungen mit Lob. Er

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