Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Engelsstimme

Engelsstimme

Titel: Engelsstimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
Vom Netzwerk:
bekam Applaus, und er verneigte sich in seinem weißen Hemd und den schwarzen Hosen, wohlerzogen und kultiviert wie ein kleiner Erwachsener. Was für ein hübscher Junge, dieser Guðlaugur, sagten die Leute. Schallplatten wurden mit ihm herausgegeben. Demnächst würde er auch in anderen Ländern berühmt sein.
    Er war nicht in Hafnarfjörður geboren. Die Familie war aus dem Norden gekommen und hatte zunächst in Reykjavík gelebt. Es hieß, dass Guðlaugurs Vater der Sohn eines Organisten war und selber in jüngeren Jahren im Ausland Gesang studiert hatte. Das Haus in Hafnarfjörður hatte er den Gerüchten zufolge von dem Geld gekauft, das er von seinem Vater erbte, der sich durch Geschäfte mit der amerikanischen Besatzungsmacht eine goldene Nase verdient hatte. Angeblich hatte er so viel geerbt, dass er sich keine Gedanken mehr über seinen Lebensunterhalt zu machen brauchte. Dieser Reichtum wurde aber nie zur Schau gestellt. Es lag ihm nichts daran, im öffentlichen Leben irgendeine Rolle zu übernehmen, sondern sie lebten zurückgezogen. Wenn er mit seiner Frau spazieren ging, zog er den Hut und grüßte die anderen höflich. Es hieß, seine Frau sei die Tochter eines Reeders, aber niemand wusste, woher sie stammte. Sie knüpften kaum neue Bekanntschaften in Hafnarfjörður. Ihre Freunde, falls sie welche hatten, lebten wohl in Reykjavík. Gäste wurden kaum in dem Haus empfangen.
    Wenn die anderen Jungen in seinem Viertel oder seine Schulkameraden nach Guðlaugur fragten, wurde ihnen meistens gesagt, dass er zu Hause bleiben und lernen müsse, entweder für die Schule oder für die Gesangs-und Klavierstunden. Manchmal durfte er aber hinaus zu ihnen, und sie merkten schnell, dass er nicht so ungehobelt war wie sie selber, sondern auf merkwürdige Weise empfindlich. Er machte sich nie dreckig, er sprang nie in Pfützen herum, beim Fußball war er zimperlich, und er sprach so unglaublich gewählt. Und dann redete er manchmal über Leute mit ausländischen Namen. Irgendeinen Schubert. Und wenn sie ihm von den neuesten Abenteuerbüchern erzählten, die sie lasen, oder den Filmen, die sie im Kino gesehen hatten, sagte er ihnen, dass er Gedichte lesen würde. Vielleicht nicht unbedingt, weil er das wollte, sondern weil sein Vater ihm sagte, es wäre gut für ihn, Gedichte zu lesen. Sie merkten, dass es der Vater war, der ihm seine Aufgaben zuwies. Zu Hause bei ihm ging es sehr streng und geregelt zu. Ein Gedicht pro Abend.
    Die Schwester war anders als er. Sie war härter im Nehmen und ähnelte ihrem Vater. Der Vater schien nicht die gleichen Anforderungen an sie zu stellen wie an den Jungen. Sie nahm Klavierunterricht und begann genau wie ihr Bruder im Kinderchor zu singen, nachdem der gegründet worden war. Ihr Freundinnen sagten, dass sie manchmal auf ihren Bruder neidisch war, wenn der Vater ihn immer bevorzugte, und auch die Mutter schien ihren Sohn mehr zu lieben als ihre Tochter. Die Leute fanden, dass Guðlaugur und seine Mutter viel mehr gemeinsam hatten. Es war, als würde sie eine schützende Hand über ihn halten.
    Einmal war ein Schulkamerad bis ins Vorzimmer vorgelassen worden, weil die Eltern sich nicht einigen konnten, ob Guðlaugur spielen gehen dürfe. Der Vater mit der dicken Brille stand oben, Guðlaugur unten, am Fuß der Treppe, und seine Mutter in der Tür zur Diele. Sie meinte, dass es doch vollkommen in Ordnung wäre, wenn Guðlaugur einmal draußen spielen würde. Er hätte nicht so viele Freunde, und sie kämen auch nicht so oft, um nach ihm zu fragen. Er könnte doch später weiterüben.
    »Jetzt wird weitergeübt!«, donnerte der Vater. »Glaubst du vielleicht, dass das etwas ist, was man ganz nach Lust und Laune tun und bleiben lassen kann, wie es einem gerade passt? Du begreifst nicht, worauf wir hinarbeiten. Du willst es einfach nicht begreifen!«
    »Er ist doch nur ein Kind«, sagte die Mutter, »und hat nicht viele Freunde. Du kannst ihn doch nicht den ganzen Tag im Haus halten. Er muss doch auch Kind sein dürfen.«
    »Es ist schon in Ordnung«, sagte Guðlaugur und ging zu dem Jungen. »Ich komme vielleicht später. Geh jetzt, ich komme vielleicht später nach draußen.«
    Auf dem Weg nach draußen hörte der Junge noch, kurz bevor die Haustür zuging, wie Guðlaugurs Vater die Treppe herunterschrie: »Untersteh dich, mir noch einmal im Beisein eines Fremden zu widersprechen.«
    Guðlaugur isolierte sich in der Schule mit der Zeit immer mehr, und die Jungen in den Klassen über

Weitere Kostenlose Bücher