Engelsstimme
wenn er zufrieden war.«
»Ich weiß.«
»Weshalb kann er mir dann nicht vergeben? Weswegen können wir uns nicht versöhnen? Ich vermisse ihn. Willst du ihm das sagen? Ich vermisse die Zeit, als wir zusammen waren. Als ich für ihn gesungen habe. Ich habe keine andere Familie.«
»Ich will versuchen, mit ihm zu reden.«
»Würdest du das tun? Willst du ihm sagen, dass ich ihn vermisse?«
»Ich werde es tun.«
»Er kann mich nicht ertragen, weil ich so bin, wie ich bin.« Stefanía schwieg.
»Vielleicht habe ich gegen ihn rebelliert. Ich weiß es nicht. Ich habe versucht, es zu verstecken, aber ich kann nicht anders sein, als ich bin.«
»Du solltest jetzt gehen«, sagte sie.
»Ja.«
Er zögerte.
»Und was ist mit dir?«, sagte er.
»Was mit mir ist?«
»Hasst du mich auch?«
»Du solltest gehen. Er könnte aufwachen.«
»Weil alles meine Schuld ist. Die Situation, in der du bist, ständig für ihn sorgen zu müssen. Du musst doch …«
»Geh jetzt«, sagte sie.
»Verzeih mir.«
»Als er nach dem Unfall ausgezogen ist, was geschah dann?«, fragte Erlendur. »Habt ihr ihn ganz einfach aus eurem Leben getilgt, so als hätte er nie existiert?«
»Mehr oder weniger. Ich weiß, dass mein Vater sich hin und wieder seine Platten angehört hat, denn er vergaß manchmal, sie wegzuräumen oder die Platte vom Teller zu nehmen. Manchmal kam uns etwas über ihn zu Ohren, und vor vielen Jahren lasen wir einmal ein Interview mit ihm in irgendeiner Zeitschrift. Da ging es um ehemalige Kinderstars. ›Was ist aus ihnen geworden?‹, war die Überschrift, oder irgendwas Furchtbares in der Art. Die Zeitschrift hatte ihn ausfindig gemacht, und er war anscheinend bereit, über seine frühere Berühmtheit zu sprechen. Ich habe keine Ahnung, warum er sich so exponiert hat. Er sagte eigentlich nichts von Bedeutung in diesem Interview, außer, dass es eine schöne Zeit gewesen war, als er im Mittelpunkt des Interesses stand.«
»Irgendjemand hat sich also an ihn erinnert. Er ist nicht ganz vergessen worden.«
»Es gibt immer welche, die sich erinnern.«
»Hat er in diesem Interview nicht darüber gesprochen, wie er in der Schule gehänselt wurde, oder über den Leistungsdruck seitens seines Vaters, den Verlust der Mutter und darüber, wie seine Hoffnungen, die euer Vater wahrscheinlich geschürt hat, zunichte gemacht wurden und er aus seinem eigenen Heim vertrieben wurde?«
»Was weißt du über die Hänseleien in der Schule?«
»Wir wissen, dass er aufgezogen wurde, weil er allen irgendwie merkwürdig vorkam. Stimmt das nicht?«
»Ich glaube nicht, dass mein Vater irgendwelche Erwartungen geschürt hat. Er ist ein sehr bodenständiger und realistischer Mensch. Ich weiß nicht, weshalb du in diesem Ton mit mir redest. Es sah eine Zeit lang so aus, als hätte mein Bruder eine bedeutende Karriere vor sich, als würde er im Ausland auftreten und viel mehr Aufsehen erregen, als es hier in unserem kleinen Land überhaupt denkbar war. Mein Vater hat ihm das gesagt, aber ich glaube, er hat ihm auch klar gemacht, dass es dazu intensiver Arbeit, großer Ausdauer und bedeutender Fähigkeiten bedarf, und dass er sich keine unrealistischen Hoffnungen machen dürfe. Mein Vater hat keine Macke gehabt. Glaub das ja nicht.«
»Ich glaube gar nichts«, erwiderte Erlendur.
»Gut.«
»Hat Guðlaugur nie versucht, Verbindung mit euch aufzunehmen? Oder ihr mit ihm? Die ganze Zeit?«
»Nein. Ich glaube, diese Frage habe ich bereits beantwortet. Da war nichts, außer der Tatsache, dass er sich manchmal zu uns ins Haus schlich, ohne dass wir davon wussten. Er hat mir gesagt, dass er das jahrelang gemacht hat.«
»Ihr beide habt also nicht nach ihm gesucht?«
»Nein, das haben wir nicht getan.«
»Zwischen ihm und eurer Mutter bestand ein inniges Verhältnis?«, fragte Erlendur.
»Sie war sein Ein und Alles.«
»Ihr Tod muss furchtbar für ihn gewesen sein.«
»Er war furchtbar für uns alle.«
Stefanía seufzte schwer.
»Es kommt mir so vor, als sei damals irgendetwas in uns allen gestorben, als sie uns verließ. Das, was uns zu einer Familie machte. Ich glaube, mir ist erst sehr viel später klar geworden, dass sie es war, die uns zusammenhielt und uns die Balance gab. Unsere Eltern waren sich nicht einig darüber, wie man mit Guðlaugurs Talent umgehen sollte, sie stritten sich wegen seiner Erziehung, wenn man das Streit nennen konnte. Sie wollte, dass er so sein durfte, wie er sein wollte. Selbst wenn er schön singen
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