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Engelsstimme

Engelsstimme

Titel: Engelsstimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
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Wohnzimmer, ein oder zwei Stunden, hat sich nicht gerührt und keinen Ton von sich gegeben. Sonst wäre ich bestimmt sehr viel eher dahinter gekommen. Er hat das ein paar Mal im Jahr gemacht, und zwar über viele Jahre hin. Also nicht so, dass er jede Nacht gekommen wäre. Vor ungefähr zwei Jahren konnte ich einmal nachts wegen irgendetwas nicht schlafen. Ich lag da im Halbdunkel, und so gegen vier Uhr glaubte ich unten ein Knarren zu hören. Ich erschrak natürlich. Das Zimmer meines Vaters ist unten, es steht nachts immer offen, und ich dachte, er würde vielleicht auf sich aufmerksam machen wollen. Dann hörte ich dieses Geräusch noch einmal und überlegte, ob da womöglich ein Einbrecher unterwegs war. Ich schlich die Treppe hinunter und sah, dass die Tür zum Zimmer meines Vaters noch genauso angelehnt stand, wie ich sie hinterlassen hatte. Als ich in den Flur kam, sah ich jemanden die Kellertreppe hinunterhuschen und ich habe ihm etwas nachgerufen. Zu meinem Entsetzen hielt er inne und kam wieder nach oben.«
    Stefanía verstummte und starrte vor sich hin, sie schien keine Verbindung zu Zeit und Raum zu haben.
    »Ich dachte, dass er auf mich losgehen würde«, sagte sie schließlich. »Ich stand in der Küchentür und machte Licht, und da stand er vor mir. Ich hatte ihn viele Jahre lang nicht von Angesicht zu Angesicht gesehen, und ich habe geraume Zeit gebraucht, bis mir klar wurde, dass ich meinem Bruder gegenüberstand.«
    »Was hast du dann gemacht?«, fragte Erlendur.
    »Ich war unfähig, überhaupt zu reagieren, als mir bewusst wurde, wer er war. Ich hatte solche Angst. Wenn es ein Einbrecher gewesen wäre, hätte ich mich nicht so verhalten, dann hätte ich sofort die Polizei anrufen müssen. Ich zitterte am ganzen Leib und stieß einen Schrei aus, als ich das Licht angeknipst hatte und ihn vor mir sah. Es muss irgendwie komisch gewesen sein, mich so hysterisch zu sehen, denn er fing an zu lachen.«

    »Nicht Papa wecken!«, sagte er, legte den Finger vor den Mund und sagte leise Psst.
    Sie traute ihren Augen nicht.
    »Bist du das?«, stöhnte sie.
    Er war so völlig anders als das Bild, das sie aus der Jugendzeit von ihm bewahrt hatte, und sie sah, dass das Alter ihm übel mitgespielt hatte; davon zeugten die Säcke unter den Augen und die dünnen, blutleeren Lippen. Seine Haare standen unordentlich in alle Richtungen. Er schaute sie mit unendlich traurigen Augen an. Unwillkürlich überlegte sie, wie alt er war.
    Er sah so viel älter aus, als er war …
    »Was machst du hier?«, flüsterte sie.
    »Nichts«, sagte er. »Ich mache gar nichts. Ich möchte bloß manchmal nach Hause.«

    »Das war die einzige Erklärung, die er mir gab, weswegen er manchmal nachts kam und sich ins Wohnzimmer setzte, ohne sich bemerkbar zu machen«, sagte Stefanía. »Er wollte manchmal nach Hause. Ich weiß nicht, was er damit meinte. Ob das mit seiner Kindheit zusammenhing, als Mama noch lebte, oder ob er an die Jahre dachte, bevor er meinen Vater die Treppe hinunterstieß. Ich weiß es nicht. Vielleicht hatte das Haus selbst irgendeine Bedeutung für ihn, denn er hat nie ein anderes Heim besessen, nur dieses schmutzige Kabuff in diesem Hotel.«

    »Du solltest jetzt gehen«, sagte sie. »Er könnte aufwachen.« »Ja, ich weiß«, sagte er. »Wie geht es ihm gesundheitlich? Fehlt ihm was?«
    »Er hält sich gut. Er braucht aber ständig Pflege. Er muss gefüttert und angezogen werden, ich muss ihn spazieren fahren und vor dem Fernseher zurechtsetzen. Er mag Zeichentrickfilme.«
    »Du hast keine Vorstellung, wie ich darunter gelitten habe«, sagte er. »Die ganzen Jahre. Ich habe nicht gewollt, dass es so kam. Das Ganze war von Anfang bis Ende ein Missverständnis.«
    »Ja, genau«, sagte sie.
    »Ich wollte nie berühmt werden«, sagte er. »Das war sein Traum. Ich sollte seinen Traum erfüllen.«
    Sie schwiegen.
    »Fragt er manchmal nach mir?«
    »Nein, nie«, sagte sie. »Ich habe versucht, ihn dazu zu bringen, über dich zu sprechen, aber er erträgt es nicht, deinen Namen zu hören.«
    »Er hasst mich immer noch.«
    »Ich glaube, das wird sich nie ändern.«
    »Weil ich so bin, wie ich bin. Er erträgt es nicht, dass ich so bin.«
    »Das ist eure Angelegenheit, und ich …«
    »Ich würde alles für ihn tun, das weißt du.«
    »Ja.«
    »Immer.«
    »Ja.«
    »All diese Anforderungen, die er an mich gestellt hat. Gesangsstunden. Üben. Konzerte. Studioaufnahmen. Davon hat er geträumt, nicht ich. Alles war in Ordnung,

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