Engelsstimme
fragte sie stattdessen. »Wie es ist, wenn man ganz einfach durchschnittlich ist und einem niemals besondere Aufmerksamkeit zukommt? Das ist, als ob du gar nicht existierst. Deine Person wird wie selbstverständlich hingenommen, nie wirst du in irgendeiner Form beachtet, nie kümmert sich jemand um dich. Und die ganze Zeit wird jemand anderes auf Händen getragen, jemand, mit dem du auf gleicher Stufe zu stehen glaubst. Er wird auf Händen getragen wie ein Auserwählter, der zur Freude seiner Eltern und aller anderen in die Welt geboren wurde. Das musst du Tag für Tag mit ansehen, Woche für Woche, Jahr für Jahr, und es ändert sich nichts mit den Jahren, außer dass sich die Bewunderung noch steigert und fast abgöttisch wird.«
Sie schaute zu Erlendur hoch.
»Da muss doch Eifersucht aufkommen«, sagte sie. »Alles andere wäre übermenschlich. Und statt dagegen anzukämpfen, fängt man auf einmal an, dieses Gefühl zu genießen, denn auf irgendeine merkwürdige Weise geht es einem besser damit.«
»Ist das die Erklärung dafür, dass du dich über den Misserfolg deines Bruders gefreut hast?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Stefanía. »Ich war diesem Gefühl gegenüber machtlos. Es überfiel mich wie ein eiskalter Schauer, ich zitterte und bebte und versuchte, es von mir fern zu halten, aber das Gefühl wollte nicht weichen. Ich hätte nie gedacht, dass so etwas passieren könnte.«
Sie schwiegen eine Weile.
»Du hast deinen Bruder beneidet«, sagte Erlendur.
»Vielleicht habe ich das zeitweilig getan. Später hatte ich Mitleid mit ihm.«
»Und zum Schluss hast du ihn gehasst.«
Sie schaute Erlendur an.
»Was weißt du über Hass?«
»Nicht viel«, sagte Erlendur. »Ich weiß aber, dass er gefährlich sein kann. Warum hast du uns gesagt, dass du fast drei Jahrzehnte lang keinerlei Verbindung zu deinem Bruder hattest?«
»Weil es wahr ist«, sagte Stefanía.
»Es ist nicht wahr«, entgegnete Erlendur. »Du lügst. Weswegen lügst du?«
»Wollt ihr mich wegen einer Lüge ins Gefängnis bringen?«
»Wenn es sein muss, tu ich das«, sagte Erlendur. »Wir wissen, dass du fünf Tage vor dem Mord an deinem Bruder hier ins Hotel gekommen bist. Du hast uns gegenüber erklärt, du hättest deinen Bruder jahrzehntelang nicht gesehen beziehungsweise keinen Kontakt zu ihm gehabt. Dann finden wir heraus, dass du ein paar Tage vor seinem Tod hier im Hotel gewesen bist. Was hast du von ihm gewollt? Und warum hast du uns angelogen?«
»Ich hätte hier ins Hotel kommen können, ohne ihn treffen zu wollen. Das ist ein großes Hotel. Hast du das vielleicht bedacht?«
»Das bezweifle ich sehr. Meiner Meinung nach war es kein Zufall, dass du ein paar Tage vor seinem Tod in dieses Hotel gekommen bist.«
Er sah, dass sie unschlüssig war, dass sie sich den Kopf darüber zerbrach, ob sie den nächsten Schritt tun sollte. Sie hatte sich augenscheinlich darauf vorbereitet, eine detailliertere Darstellung zu geben als bei ihrem ersten Gespräch, aber jetzt hieß es, den Sprung zu wagen.
»Er hatte einen Schlüssel«, sagte sie dann so leise, dass Erlendur es kaum hören konnte. »Das war der, den du meinem Vater und mir gezeigt hast.«
Erlendur erinnerte sich an den Schlüsselbund, der im Zimmer gefunden worden war, und an das kleine rosa Messer mit dem Bild von einem Piraten, das an dem Schlüsselring hing. Zwei Schlüssel waren daran gewesen, einer wahrscheinlich ein Hausschlüssel, der andere vielleicht zu einer Schublade, einem Schrank oder einer Kiste.
»Was hat es mit diesen Schlüsseln auf sich?«, fragte Erlendur. »Kennst du sie? Weißt du, wo sie hineinpassen?«
Stefanía lächelte kalt.
»Ich habe genau den gleichen Schlüssel«, erklärte sie.
»Was für ein Schlüssel ist das?«
»Zu unserem Haus in Hafnarfjörður.«
»Du meinst dein Zuhause?«
»Ja«, sagte Stefanía. »Das Haus von mir und meinem Vater. Er gehört zur Kellertür hinter dem Haus. Aus dem Keller führt eine schmale Treppe in den Flur im Erdgeschoss, und von dort aus kommt man in die Küche und ins Wohnzimmer.«
»Meinst du damit, dass …?« Erlendur versuchte, sich über die Bedeutung ihrer Worte klar zu werden. »Meinst du, dass er Zugang zum Haus hatte?«
»Ja.«
»Und ist er ins Haus gekommen?«
»Ja.«
»Aber ich dachte, es hätte keinerlei Verbindung zwischen euch gegeben. Du hast gesagt, dass dein Vater und du euch jahrzehntelang nicht um ihn gekümmert habt. Dass da keinerlei Kontakt war. Weswegen hast du
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